Harzsage von der Teufelsmauer

Die Sage von der Teufelsmauer

Meilenlang zieht sich am Ostrand des Harzes mitten durch die vorgelagerte Ebene ein steiler, schmaler Bergrücken hin, dessen Spitze von einer fortlaufenden Kette grotesker und phantastischer Felsengestalten gekrönt ist; bei Blankenburg hebt er an und erst gegen Ballenstedt findet er sein Ende. Seine Formen sind auffällig und abenteuerlich. Dieser Bergrücken heißt die Teufelsmauer.

Wie von Riesenhänden zusammengefügt, steigen die Felsen bald als schroffe Klippen in die Höhe, bald fallen sie zerklüftet und schroff hinab, um in einem Fuße zu enden, der sich aus zersplittertem Steingeröll auftürmt. Es sind geheimnisvolle Orte, an denen man Stimmen hört und Gold finden kann, und ein einziger Blick genügt um zu erkennen, dass nur der Teufel diese Steinkolosse hierher versetzt haben kann:

Der Teufel war zutiefst unzufrieden. Bei der Aufteilung der Welt war er nicht berücksichtigt worden, und er wollte mit Gott die Erde teilen. Da schlug der Herrgott, um den Streit zu beenden, einen Handel vor. Dem Höllenfürsten solle ein Gebiet zufallen, das er in einer einzigen Nacht bis zum ersten Hahnenschrei mit einer Mauer umfrieden könne. Dieser Landstrich mit allem, was sich darauf und darunter befinde, würde ihm gehören. Und dafür kamen dem Teufel die Harzlande gerade recht.

Gesagt, getan! Kaum war die Sonne untergegangen, machte sich Luzifer ans Werk, eilte das Heer der teuflischen Helfer, böse unterirdische Geister, herbei. Das war ein Poltern und Krachen, ein Stemmen und Rennen, ein Schnaufen, Fluchen und Schreien! Der Teufel schuftete wie ein Besessener, denn das Gebiet, nach dem ihm verlangte, war riesengroß. Die Steinmauer wuchs beständig, und schnell schien sich der Ring zu schließen. Aber gerade in dem Augenblick, als sich der Teufel nach dem letzten passenden Stein bücken wollte, krähte in der Ferne ein Hahn!

Da war die Nacht vorüber, der Harz für den Teufel verloren und die Chance vertan. Voller Wut schleuderte der Fürst der Finsternis den Stein, der sein Werk vollenden sollte, ins Harzer Vorland, wo er nördlich von Ballenstedt liegenblieb. Dann rief der Tobende nach Blitz und Donner, trat selbst gegen die fast fertige Mauer und zerstörte sie. Die Trümmer aber und die zerrissenen Felsbrocken blieben stehen als ein Zeugnis der Allmacht des Höchsten und der Ohnmacht seines Widersachers.

Was der Teufel in diesem Moment aber nicht wusste: Der neue Tag war noch gar nicht angebrochen. Ein Hahn hatte nämlich vorzeitig gekräht und daran trug allein eine Bauersfrau aus Timmenrode die Schuld. Sie war früh am Morgen aufgebrochen und wollte zum Markttag nach Quedlinburg. In der Hand hielt sie einen verhängten Käfig, in dem ein stattlicher Hahn hockte. Den wollte sie verkaufen und hoffte, weil er so gut im Fleisch stand, auf einen guten Preis. Bis zum Sonnenaufgang blieb noch eine Stunde Zeit. Die Bäuerin schritt zügig aus, auch wenn ihr vor Müdigkeit die Augen fast zufielen – doch die Füße kannten den Weg. Als sie sich aber einmal umschaute, erblickte sie die Umrisse einer Mauer, die sie nie zuvor gesehen hatte, und sie erschrak so heftig darüber, dass sie ins Stolpern kam und fiel. Die Käfigtür sprang auf, der Hahn war draußen! Als der die Bäuerin bäuchlings liegen sah, bekam er es selbst mit der Angst zu tun, fing aufgeregt an zu flattern und schmetterte ein völlig verfrühtes »Kikeriki!« ins Land.

Und dies war es, was den Teufel völlig aus der Fassung gebracht hatte. So kam es, dass der Harz sich heutzutage nicht in Teufelshand befindet. Nur die Hähne in der Harzgegend hatten künftighin einen schweren Stand. Nach dem Debakel im Morgengrauen war der Teufel auf sie nicht gut zu sprechen. Wo er einem solchen gefiederten Zweibeiner begegnete, drehte er ihm den Hals um.


Rosstrappe Emma

Die Sage von der Rosstrappe

Die Sage führt uns in die altersgraue Zeit, in welcher noch das gewaltige Geschlecht der Hünen den Harz bewohnte. Damals herrschte ein mächtiger König, dessen Gebiet sich über das ganze Gebirge erstreckte. Er hatte keinen Sohn, der nach seinem Tode sein Nachfolger hätte werden können, wohl aber war ihm eine liebliche Tochter erblüht; ihr musste seine ausgedehnte Herrschaft zufallen, wenn er dereinst die Augen schloss. Daher nahte sich der schönen Emma mancher Bewerber, um sie als sein Ehegemahl heimzuführen. Denn die Aussicht, so der mächtige Gebieter des Harzes zu werden, war verlockend genug.

Stolzen Sinnes aber wollte der König sein geliebtes, einziges Kind nur einem ebenbürtigen Herrscher geben, damit sich ihr Gebiet dereinst noch über den Harz hinaus erstrecken solle. Die schöne Emma war wohl zufrieden mit den Plänen ihres Vaters; denn sie liebte über alles die ungebundene Freiheit und fürchtete nichts so sehr wie die Fesseln, die ein Gemahl oder Eheherr ihr anlegen könnte.

Da sandte einst einer von des Königs Vasallen, der fern im Gebirge nur eine kleine Burg besaß, seinen Sohn Selmar an den Hof, auf dass er seinem Gebieter diene. Kaum hatte Emma den Jüngling erblickt, als seine Schönheit sie entzückte und seine Tapferkeit und sein edles Benehmen ihr Wohlgefallen im höchsten Grade erregten. Und als Selmar, der des Mädchens Liebe bald voll und ganz erwiderte, sie bat, sein Weib zu werden, willigte sie freudig ein.

Wie glücklich machten die Prinzessin die Beteuerungen ihres Geliebten, dass ihn nicht nach der Krone gelüste, dass er nur sie besitzen wolle, um mit ihr auf seiner einsamen, aber sicheren Burg ein Leben voll Wonne und Glückseligkeit zu führen.

Ohne Scheu trat sie deshalb vor den Vater hin und gestand ihm ihre Liebe zu dem Sohne des Vasallen; hatte sie es doch sicher noch nie erlebt, dass er seinem zärtlich geliebten Töchterchen eine Bitte abgeschlagen hatte. Wie erschrak sie daher, als ihr Vater in Zorn geriet und ihr heftig entgegnete, nur ein König bekäme ihre Hand! Und als sie endlich sah, dass kein Bitten, kein Flehen den stolzen Sinn des Vaters beugen könne, wurde sie sehr traurig. In sich gekehrt saß sie in ihrer Kammer, und selbst das Wiehern ihres Lieblingspferdes vermochte sie nicht ins Freie zu locken.

Den Vater schmerzte das Hinwelken seines Töchterleins. Endlich glaubte er einen Ausweg gefunden zu haben. Er ließ Emma und Selmar vor seinen Thron kommen und begann also: »Ist Deine Liebe zu meiner Tochter so groß, Selmar, dass Du mutig gegen schwere Gefahren kämpfen würdest, um ihren Besitz zu erlangen?« »Fordere, was Du willst, mein Gebieter; für Deine Tochter wage ich alles.« Der König fuhr fort: »Wenn es also ist, wie Du sagst, so wird Dir mein Verlangen gering erscheinen und Du wirst es mit Leichtigkeit erfüllen. Du magst also nach Island wandern, wo am Fuße des Hekla eine starke Burg erbaut ist. Ein gewaltiger Riese, der Erbfeind meines ganzen Geschlechts, haust in der Feste. Ihn zu bezwingen und zu töten sei Deine Aufgabe. Zwei Jahre soll meine Tochter Deiner harren; doch bist Du dann noch nicht heimgekehrt, so gebe ich sie einem anderen zum Weibe.«

Mit Entsetzen hatte Emma diese Worte vernommen; sie wusste, dass schon mancher Tapfere dorthin gezogen war, das Ungeheuer zu bekämpfen, aber noch keiner war lebend zurückgekehrt. Doch blieb den Liebenden nichts übrig, als sich dem Entschlusse des Königs zu fügen.

Selmar zog bald von dannen mit den tröstlichen Worten, dass die Liebe zu Emma seine Kräfte stählen und er siegreich heimkehren werde; sie möge nur geduldig und treu seiner Rückkehr harren.

Monde um Monde verrannen; noch immer war die Königstochter von Traurigkeit umfangen. Zwar suchte sie Trost zu finden, indem sie in wilder Hast zu Ross das Gebirge durchjagte; aber es war vergeblich.

Aber ihr Unglück sollte noch größer werden. Eines Tages teilte ihr der Vater mit, dass der König des Riesengebirges, der mächtige Bodo, sie zum Weibe begehre, und dass er die Werbung dieses großen Herrschers freudig angenommen habe. Emma war entsetzt bei dem Gedanken, das Weib dieses Unholdes, der ein böser Zauberer war, zu werden. Seine feurig rollenden Augen und sein schrecklich großes und hässliches Gesicht flößten ihr Schauder ein. Sie beschwor ihren Vater, sie diesem Grässlichen nicht zu opfern; aber auf alle ihre Bitten entgegnete derselbe, dass er solch einen Freier unmöglich abweisen könne.

Da drang Emma in ihren Vater, doch des Versprechens zu gedenken, welches er Selmar gegeben, und wenigstens die jenem gesteckte Frist abzuwarten. Nach einigem Zögern willigte der König ein; denn er glaubte, dass Selmar niemals heimkehren werde. Den mächtigen Bodo wusste er zu beschwichtigen und ihn noch ein Jahr hinzuhalten mit dem Versprechen, dass dann seiner Vermählung mit Emma nichts mehr im Wege stehen solle.

Die beiden Jahre waren vorüber, vergeblich stand Emma von früh bis spät auf den Zinnen der Burg und spähte in die Ferne; Selmar kehrte nicht heim. Wohl aber sah sie jetzt den schrecklichen Bodo nahen, der kam, sie zu holen. Auf ungeheurem schwarzen Ross flog er daher, und Angst und Bange wurde ihr, wie sie an seiner Seite einen mächtigen, weißen Zelter ohne Reiter entdeckte, der augenscheinlich bestimmt war,sie in die Heimat des Verabscheuten zu tragen. Jetzt übergab er seinem Knappen die Pferde und betrat die Burg, die von seinen dröhnenden Schritten widerhallte. Die Unglückliche aber trieb es hinaus in den Wald. Dort wollte sie Abschied nehmen von den Plätzen, an denen sie einst glücklich gewesen war mit dem Geliebten.

So lehnte sie unter einer mächtigen Eiche, von deren Fuß die Liebenden einst hinausgeblickt in die Ferne – da plötzlich trat der Heißersehnte ihr entgegen! Jauchzend flog sie in die Arme des Geliebten und im Wonnerausch des Wiedersehens vergaßen beide alles Leid, alles Ungemach. Bald aber erwachte Emma aus ihrem Glückstraum, und die Gegenwart mit all ihren Schrecken trat vor ihre Seele. Sie bemerkte die schweren Verwundungen ihres Selmar, die er vom harten Kampf mit dem Riesen davongetragen – und sie klagte dem Geliebten das bittere Leid, das ihr der Vater angethan und das sie nun wohl aufs neue trennen würde.

Zwar wollte Selmar, außer sich vor Schmerz und Zorn, sogleich auf die Burg eilen, um den gehassten Nebenbuhler zu töten; doch gab er Emmas Bitte nach, die ihm vorstellte, dass er nach den überstandenen Strapazen noch zu schwach sei und bei dem ungleichen Kampf unterliegen müsse. Nur List konnte die Geliebte den Händen des Unholds entreißen, und lange sannen beide hin und her. Endlich glaubten sie einen Ausweg gefunden.

Ruhig, ja heiter betrat bald darauf Emma die Burg ihres Vaters, indessen Selmar sich in der Nähe verbarg. Der wilde Bodo war entzückt von seiner reizenden Braut und überreichte ihr viele wertvolle Geschenke, unter denen sich auch der weiße Zelter befand. Freundlich dankend nahm Emma alles entgegen; als er ihr aber das Pferd übergab, zeigte sie sich so hocherfreut, dass sie bat, es doch gleich einmal besteigen zu dürfen. Gern willfahrte der Riese diesem Wunsche und lehrte sie alle Zauberformeln, die sie anwenden müsse, um den Zelter zu leiten. Vermittels dieser Formeln konnte sie das Ross zum rasenden Galopp anspornen.

Das Hochzeitsmahl sollte nun stattfinden. Emma erschien im glänzenden Gewande, die strahlende Krone der Harzkönigin, aus der Hunderte von Edelsteinen blitzten, in den blonden Haaren. Bodo berauschte sich im Anblick seiner Braut, und selbst der Vater schaute mit Entzücken auf die reizende Erscheinung. Mit großer Besorgnis hatte er bisher an den für die Hochzeit festgesetzten Tag gedacht, da er fürchtete, sein widerspenstiges Töchterchen werde sich nicht fügen. Jetzt war alle Sorge vergessen. Emma selbst versäumte nicht, die leeren Krüge immerfort mit frischem Met zu füllen, bis der Jubel mehr und mehr verstummte und sich in Folge des reichlich genossenen Getränks eine unwiderstehliche Müdigkeit aller Festgenossen bemächtigte.

Auf diesen Augenblick hatte Emma gewartet. Schnell eilte sie hinaus und bestieg ihren weißen Zelter. Selmar war ihr gefolgt und versuchte, sich des schwarzen Rosses zu bemächtigen, um den Riesen an der Verfolgung zu hindern. Aber weder Selmar noch Emma kannten die Zaubersprüche, durch welche das Pferd allein zu lenken war. Sowie sich ihm jemand nahte, schlug es wutschnaubend mit den Hufen. Emma trieb ängstlich zur größten Eile, und so blieb ihnen kein anderer Ausweg, als dass Selmar sich hinter die Geliebte auf den Zelter schwang. Jetzt ging es in wildester Flucht von dannen! Fortstürmend wollten sie versuchen, die Burg Selmars zu erreichen, die für jeden, selbst für einen Zauberer, unzugänglich war.

Aber kaum war der Zelter nur durch die Thore der Burg gesprengt, da erhob der zurückgebliebene Rappe ein furchtbares Gewieher, dass die Berge davon wiederhallten und Bodo aus seiner Trunkenheit aufgeschreckt wurde. Wutschnaubend bemerkte er die Flucht seiner Braut, schwang sich auf sein Pferd und stürmte wie auf Windesflügeln den Flüchtigen nach. Immer rasender wurde der Ritt; denn Emma, als sie den Verfolger gewahrte, gebrauchte die stärksten Zauberformeln, um ihr Pferd zur Eile anzutreiben, und wie ein Gewittersturm ging es über Klippen und Höhen.

Schon schlug des höhnische Lachen des Riesen an ihre Ohren. Voller Angst stürmten sie weiter, als sie die Äste einer Eiche so nahe streiften, dass dieselben Selmar zu Boden schleuderten. Entsetzt bemerkte Emma den Sturz des Geliebten; aber sie durfte nicht innehalten. Selmar war ein Mann und musste im Kampf sein Heil versuchen; sie dagegen musste an ihre Rettung denken, denn der Gefürchtete kam näher und näher. Unbeachtet ließ auch Bodo Selmar liegen. Ihn sollte seine Rache später treffen. Jetzt galt es ihm nur, Emma wiederzuerlangen.

Da plötzlich scheute Emmas Pferd, und vor sich sah sie einen gähnenden Schlund, in welchem große Wassermassen zischend und tosend dahinschossen. Sie hatte den Abgrund des Bodetalkessels erreicht. Von Angst und Verzweiflung getrieben, suchte sie einen Ausweg; doch vergeblich: rückwärts konnte sie nicht, ohne in Bodos gefürchtete Hände zu fallen, und vor ihr tat sich nur der entsetzliche Schlund auf, den an der anderen Seite ebenso schroffe Felsengebilde begrenzten. Verzweiflungsvoll spähte sie umher. Mit triumphierendem Gefühl nahte jetzt ihr Verfolger, der schon die schöne Beute in seinem sicheren Besitze wähnte. Grauen und Furcht trieben Emma bei seinem Anblick zum Äußersten. Noch einmal schaute sie nach dem gefürchteten Unhold zurück, dann wagte sie das Schreckliche, sprach die stärkste Zauberformel, gab ihrem Pferde die Sporen und flog über den Abgrund wie ein Blitz!

Rosstrappe Emma
Illustration Emma

Die goldene Krone löste sich bei dem gewaltigen Sprunge aus ihren Haaren und fiel in den Fluss, der unten vorbeiströmte; sie aber erreichte das jenseitige Ufer, auf welches das Pferd mit dem Hufe gewaltig aufschlug, dass derselbe sich tief in dem harten Felsen eindrückte. Bis auf den heutigen Tag ist dieser Eindruck noch sichtbar.

Nach dem Sprunge aber sank das Tier erschöpft nieder. Auch die Reiterin war fast ohnmächtig zusammengebrochen; nur die Kraft blieb ihr, noch einmal ängstlich nach ihrem Verfolger zurückzuspähen. Wütend hatte dieser Emmas Tat der Verzweiflung gesehen, aber er war nicht willens, sich im letzten Augenblick noch seine Beute entgehen zu lassen. Alle Kräfte aufbietend, spornte er sein Pferd zum gewagten Sprunge an und flog von dem Felsen über den Abgrund dahin. Aber was der kühnen Emma gelungen war, ihm glückte es nicht; sein Pferd sprang zu kurz, und mit furchtbarem Gebrüll stürzten Ross und Reiter in den brausenden Strom. Da verwandelte sich Bodo im Sturze vermittels seiner Zauberkünste in einen riesigen Drachen, und da er an derselben Stelle niederstürzte, an der auch Emmas Krone niedergefallen war, bewacht er seitdem mit eifersüchtigen Augen die Krone.

Rosstrappe, Bodo
Illustration Ritter Bodo

Kein Wesen darf sich nahen, um sie dem nassen Element zu entreißen. Der wütende Drache tötet alle, die dies Wagnis unternehmen. Wenige haben auch nur den tollkühnen Versuch gemacht; denn das Brausen und Tosen des Wassers, das schäumend aus dem Kessel emporspritzt, in welchem Krone und Drache ruhen, erfüllte alle mit Grausen und hielt sie von dem Furchtbaren zurück. Nur einer hat es nach Jahren gewagt, sich in die grause Tiefe zu stürzen; doch nicht um in den Besitz der kostbaren Krone zu gelangen, sondern weil Ritterehre ihn zwang, ein gegebenes Wort einzulösen.

Emma hatte den furchtbaren Sturz ihres Verfolgers gesehen, und das selige Gefühl der Befreiung stählte ihre Kräfte, so dass sie bald in die väterliche Burg zurückkehren konnte. Als dann auch Selmar vor dem Throne des Königs erschien, wurde er als Besieger des gefürchteten Feindes in Island freundlich empfangen, und seiner Verbindung mit Emma wurde kein Hindernis mehr in den Weg gelegt.


Harzsage: Die Harzburg

Die Sage von der Harzburg

Wechselvolle Schicksale sind über die Harzburg, die einstige Kaiserburg, dahingezogen. Heinrich IV. hat sie errichten lassen – ihr Glanz währte nur kurze Zeit und heute sind kaum noch spärliche Überreste vorhanden.

Als nämlich die Sachsen sich gegen ihren Kaiser empört hatten und mit einem starken Heer gegen Goslar gerückt waren, wo sich Heinrich in seiner Pfalz aufhielt, musste er der Übermacht weichen und floh zunächst nach der festen Harzburg. Aber auch hier war seines Bleibens nicht; die empörten Sachsen bedrängten ihn hart. Er musste endlich die Schleifung seiner Burgen versprechen und bat sich nur aus, man möge wenigstens den Dom auf der Harzburg schonen. Dann entfloh er in finsterer Nacht auf einem Seitenpfade, der ihn durch dichte Waldungen führte, von der Feste.

Heinrichs Bitte wurde nicht erfüllt. Die aufgebrachten Bauern zerstörten alles; der kostbare Dom wurde vernichtet, die Gräber geöffnet und die Gebeine der königlichen Familie umhergestreut. Zwar baute Heinrich später die Burg wieder auf. Als ihn aber gar der Bannstrahl des Papstes traf, wurde auch die Harzburg nochmals zertrümmert. Das Volk aber erzählt sich vom Burgberg die verschiedensten Sagen.

Hier ist es, wo der wilde Jäger, der Hackelberg, am häufigsten und am lautesten und lärmendsten vorbeistürmt. Auch eine weiße Jungfrau lässt sich zuzeiten auf dem Burgberg sehen, und wie im Kyffhäuser sollen auch hier im Innern des Berges der Kaiser Rotbart und andere Edle schlafen.

In den Brunnen auf dem Burgberg, in welchem es oft gewaltig rauscht, soll Heinrich IV. bei seiner Flucht vor den Sachsen die Kaiserkrone geworfen haben. Der Weg, den er genommen hat, soll durch eine Öffnung im Innern des Brunnens in den Wald geführt haben. Ein Verbrecher, der Schöppenstedt hieß, sollte in späterer Zeit seine Vergehen mit dem Tode büßen. Da beschloss man, ihn stattdessen in den Brunnen hinunter zu lassen, damit man erfahre, ob es in demselben wirklich einen Ausweg gäbe. Fände er einen Ausgang und käme er wohlbehalten heraus, so sollte ihm das Leben geschenkt werden.

Gesagt, getan, der Verbrecher wird in den tiefen Brunnen an einem Seil herabgelassen. Und richtig, der Schöppenstedt kommt an eine eiserne Tür, die sich bald auftut; vor ihm erscheint die weiße Jungfrau und sagt, es wäre sein Glück, dass er nicht aus Mutwillen herabgekommen sei. Dann hat sie ihn weiter ins Unterirdische geführt und auf das viele dort in den Gängen liegende Geld gewiesen und gemeint: »Wenn‘t bronswieksche Land mal pankerott wörre, soll dat wedder davon herestellet weren.« Schließlich hat sie den Schöppenstedt den Gang entlang in eine Höhle geführt, wo Kaiser Friedrich Barbarossa und Kaiser Otto beide an einer mit Speisen besetzten Tafel gesessen hätten. Dem einen Kaiser sei der Bart durch den Tisch gewachsen. Ringsumher hätten viele Gold- und Silbergeräte gelegen; auch eine Menge Pferde hätten umhergestanden. Keiner habe ein Wort gesagt, und auch der Schöppenstedt sei lieber stumm geblieben. Zuletzt ist der Gauner an einer Stelle im Walde, die jetzt Schöppenstedtergrund heißt, wieder herausgekommen.

Harzsage: Die Harzburg
Illustration von Luise Bussert aus "Die schönsten Sagen aus dem Harz"

Die weiße Jungfrau soll sich übrigens schon vielen in der Umgegend der Harzburg gezeigt haben, besonders in der Nacht vor Freitag. Deshalb sagt man in der Umgebung: »Die ganze Woche wunderlich, der Freitag ist absunderlich!« Ihr eigentlicher Aufenthaltsort aber ist der Brunnen gewesen. Manchem hat sie Schätze angeboten, wenn er sie erlösen wollte; aber die Leute haben immer Furcht gehabt und sind leider davongelaufen. So wartet sie heute noch auf ihre Erlösung.


Die Zwerge von Wernigerode

Die Zwerge von Wernigerode

Die Sage von den Zwergen von Wernigerode

Die Zwerge von Wernigerode
Illustration Luise Bussert, "Die schönsten Sagen aus dem Harz"

Rings um Wernigerode wohnten hunderte von Zwergen; in den Bergen, im Tiergarten, ja selbst in den Teichen hatten sie ihre Schlupfwinkel; dort, wo jetzt der Teichdamm sich befindet, war ehemals ein wirklicher Teich; die Zwerge aber, die denselben bewohnten, nannte man Nickel. Waren sie auf dem Lande gewesen und wollten wieder hinab in ihre Behausung, so schlugen die Kleinen mit einer Rute auf das Wasser, – sofort teilte sich dasselbe und tat sich wieder zu, wenn die Zwerge hindurchgeschritten waren. Oft nahmen die Nickel auch Kinder mit in ihre Höhlen, welche unter dem Teiche lagen und von Gold und Silber strotzten; darum fürchteten die Bewohner von Wernigerode sich sehr vor ihnen.

[expand]

Eine Frau, die in Röschenrode wohnte, hatte ein kleines Kind, welches gar nicht gedeihen wollte. Anfangs war es rund und voll gewesen, hatte ein niedliches Gesichtchen gehabt, plötzlich aber wurde es grau und mager, und nur der Kopf nahm an Stärke zu, ja, er wurde ungestaltet dick. Die Mutter härmte sich über die Verwandlung, die mit ihrem Liebling vorgegangen war, und fragt alle um Rat, aber keiner konnte ihr helfen. Als nun das Kind sechs Wochen alt war, nahm es die Frau, um mit ihm in die Kirche zu gehen und es einsegnen zu lassen, wie das damals Brauch war.

Kaum aber hatte sie die große Brücke betreten, die nach Wernigerode führte, als aus dem Wasser heraus eine grobe Stimme rief: »Kuhlkropf, wo willst Du hin?« Wie erschrak aber die gute Frau, als ihr kleines, sechs Wochen altes Kind mit kräftiger Stimme entgegnete: »Ich will nach der Lieben-Frauen und mich lassen weihen, Dass ich mag gedeihen.«

Auf einmal wurde es ihr klar, dass sie einen Nickel anstatt ihres eigenen Kindes gehegt und gepflegt hatte, und laut aufschreiend warf sie das kleine Geschöpf ins Wasser. Die Fluten teilten sich, und der Zwerg war verschwunden. Als aber die Frau klagend und jammernd über den Verlust ihres geliebten Kindes zu Hause wieder anlangte, da, zu ihrer größten Freude, lag das kleine Wesen so rosig und lieblich wie nie zuvor in seiner Wiege und schlummerte.

Auch die Zwerge vom Kreuzberge hatten einer Mutter ihr Kind vertauscht und diese merkte es lange nicht. Endlich kam sie hinter den Betrug; um sich aber vollends zu überzeugen, holte sie eine halbe Eierschale und kochte Wasser darin. Wie dies das Kind sah, fragte es: »Mutter, wat wutte da maken?« – »Dik Thee inne kooken,« war die Antwort. Da blickte das kleine Geschöpfchen verwundert und rief: »Sau bin ick doch sau oolt Wie de Schimmelvoolt. Dreimal e hacket un dreimal e koolt, Und häwwe noch nicht eseihn in de Eierschal Water kooken.«

Kaum hatte das Zwergkind sich durch diese Worte verraten, als es auch verschwunden war und an seiner Stelle das richtige Söhnchen der Leute stand. Der Knabe erzählte seinen Eltern viel von den Zwergen, bei denen er gewohnt; dass sie immer gut und freundlich zu ihm gewesen seien, dass er dort von Gold und Silber gegessen hätte und des Nachts in einer Mütze geschlafen habe, aber so weich und schön, wie in seinem Bette. Habe er beim Spielen sein Zeug zerrissen, so hätte ein Zwerg nur darüber gestrichen und es sei wieder heil gewesen, ebenso hätten sie jede Wunde, die er durch Fallen oder Stoßen sich zugezogen, nur durch einfaches Handauflegen geheilt. Der Zwerg, der ihn hierhergebracht, habe ihm auch gesagt, er solle den nächsten Sonntag allein vor die Höhle kommen und ihn rufen.

Als der Sonntag gekommen war, ging der Knabe hinaus zum Kreuzberg, und auf sein Rufen erschien sofort einer der Zwerge, war aber gar nicht so freundlich wie gewöhnlich, sondern schalt den Kleinen, dass er so vieles ausgeschwatzt habe. Dann gab er ihm hundert Taler und bestimmte, wem davon abgegeben werden solle. Als Bedingung aber forderte er, dass Fritz fernerhin verschwiegen sei. Außerdem solle jeden Morgen auf dem Fensterbrett Geld für ihn und seine Eltern liegen, doch jedesmal, bevor er es herabhole, müsse er sich ja waschen und dürfe auch nicht den Seinen verraten, woher er das Geld nähme. Nachdem alles genugsam beredet, ging der Knabe nach Hause, wo seine Eltern schon ängstlich auf ihn warteten.

So wie der Zwerg gesagt hatte, geschah es: jeden Morgen lagen mehrere Groschen, gerade soviel, wie das Tagelohn der Eltern betrug, auf dem Fensterbrette, und Fritz brachte es allemal, wenn er sich gewaschen hatte, seinen Eltern. Diese waren neugierig genug, zu erfahren, woher wohl der Knabe immer das Geld nähme; eines Morgens schlich deshalb die Mutter heimlich dem Kleinen nach. Sowie sie sich aber vorbeugte, dann bekam sie einen heftigen Nasenstüber, und gleichzeitig rief es: »So neugierig, wie Du, sind alle Frauensleute!« Die Schmerzen in der Nase wurden aber bald so heftig, dass die Frau zum Arzt schicken musste. Da sie sich aber schämte, dem Doktor den Ursprung der Krankheit zu sagen, konnte dieser ihr nicht helfen, und die Anschwellung wurde immer schlimmer. Als nun der Sonntag kam und der Knabe wieder zur Zwerghöhle ging, gab ihm einer der Zwerge einen Topf mit einer Salbe darin und bedeutete ihn, davon auf die Nase seiner Mutter zu schmieren, auch sonst den Inhalt bei Krankheiten zu gebrauchen, allemal würde diese Salbe helfen. Glücklich brachte Fritz das Töpfchen heim und befreite seine Mutter sofort von ihrer Qual.

Später mussten die Zwerge fortziehen, – nach dem Rammelsberg zum Kaiser Otto, wie sie sagten, – und da haben sie den Fritz so überreich mit Schätzen bedacht, dass er Ritter von der Harburg wurde und angesehen und glücklich dort noch viele Jahre lebte.

[/expand]


Der Walfisch am Wernigeröder Schloss

Der Walfisch am Wernigeröder Schloss

Die Sage vom Walfisch am Wernigeröder Schloss

Der Walfisch am Wernigeröder Schloss
Illustration Luise Bussert, "Die schönsten Sagen aus dem Harz"

Bei einer großen Wasserflut, deren riesige Wellen auf ihrem Weg alles zerstört hatten, sichtete man nicht unweit des Wernigeröder Schlosses einen Walfisch. Sofort berichteten die Schiffsleute dem Grafen, dass ein riesiger Walfisch auf das Schloss zukäme. Er wäre so riesig, dass er wohl das ganze Schloss mit all seinen Bewohnern verschlingen könne. Der Graf schickte einen Boten zu einer weisen alten Frau, die ihm schon oft mit guten Ratschlägen zur Seite gestanden hatte.

[expand]

Die Alte kam auch sofort und riet dem Grafen ein starkes Seil anfertigen zu lassen, an dessen Ende ein sehr großer und stabiler Eisenhaken mit spitzen Widerhaken befestigt werden sollte. Dann sollte man das Seil aus dem Schlossfenster hinaus auf die Schlossmauer hängen und auf den Haken ein riesiges Stück Fleisch aufspießen. Der Walfisch würde den riesigen Fleischhappen nicht verschmähen und ihn mitsamt dem Haken verschlingen. Dann solle man das Seil anziehen, bis der Wal am Haken hänge und ihn so lange an der Mauer hängen lassen, bis er verhungert sei.

Nun gut, meinte der Graf und gab entsprechende Befehle. Da er aber doch ein paar Zweifel hatte, rief er seine tapfersten Ritter zusammen. Falls der Plan schief gehen würde, wollte er mit ihnen zusammen das Schloss verteidigen.

Alle Bewohner des Schlosses zogen sich auf Geheiß des Grafen in den Bergfried zurück. Die Ritter aber versammelten sich hinter dem Schloss zum Angriff auf das Untier. Mit einer tosenden Welle, fast einer Sturmflut gleich, kam der riesige Walfisch auf das Schloss zu. Wie die Alte gesagt hatte, schnappte er nach dem Fleischhappen und verschlang ihn mitsamt dem Haken. Die Männer zogen das Seil an und der Walfisch hing an der Schlossmauer – bis er verhungert war. Die Wasserflut aber ging sogleich zurück und alle waren froh, dass das Unheil abgewendet werden konnte.

Das Walfischgerippe aber sollte als Wahrzeichen für die Tapferkeit der Bewohner des Schlosses auf ewig am Wernigeröder Schloss zu finden sein. Noch heute können alle Besucher des Schlosses einen riesigen Walknochen bestaunen.

[/expand]


Die Harz-Hexe

Die Harz-Hexe: "Ich bin die deutsche Baba Jaga"

Ich bin die deutsche Antwort auf die russische Baba Yaga«, so Elli Engel mit einem Selbstbewußtsein, welches wohl nur professionellen Besenfliegern eigen ist.
Sitzt man dieser Frau aber gegenüber, nimmt man ihr die ausgesprochene Leidenschaft für die Magie postwendend ab. Denn dafür bedarf es bei Elli Engel weder eines Hexenbesens noch der »berufstypischen« Verkleidung. Mit ihren langen schwarzen Haaren und Blicken, die jedem Gast auf Anhieb die Nackenhaare aufstellen lassen, muß sie sich nicht nur zu Walpurgis in ihre Hexenrolle finden. Sie ist eine Hexe – auch die restlichen 364 Tage im Jahr und scheint darin endgültig ihre Passion gefunden zu haben.

Das Credo der gebürtigen Helmstedterin: »Eine richtige Hexe ist man entweder das ganze Jahr über oder es handelt sich um eine faschingsmäßige Verkleidung nur so zum Spaß.« Selbst ihr herzerfrischendes Lachen wirkt ganz und gar unaufgesetzt und irgendwie passend zur selbst gewählten Rolle der typischen »Harzer Langnase«. Elli Engel geht in der Märchenfigur der von ihr geschriebenen Bücher derart auf, daß ihr bisheriger Lebensweg eigentlich nur eine Aneinanderreihung von klassischen Fehlbesetzungen gewesen sein kann.

Nachbarn wollen sie schon mehrfach mit ihrer Räucherschale aus Messing um ihr Haus laufen sehen haben und waren dann gleichermaßen irritiert wie ratlos, »was die merkwürdige Hexe da wohl wieder treibt«. Andere Allröder haben sich längst daran gewöhnt, daß die Neuzugezogene irgendwie anders ist als der Rest der Welt. Und wieder andere sind sogar ein bißchen neidisch auf die Beachtung, die Allrode ausgerechnet durch eine Hexe zuteil wird.

Auch die vielen knallig bunt bemalten Stecken und Steine am Eingang ihres Anwesens waren schon Anlaß zu wilden Spekulationen. Die Farbe war zuvor mit Kampfer gemischt worden. Damit wollte Elli Engel eigentlich nur das Böse aufhalten – mehr nicht! Es gäbe andernfalls zu viel negative Energie, die ohne Kräuter, Stecken und Steine auf sie einwirken würde.

Ich fühle mich den Engeln sehr verbunden

Und falls das nicht ausreicht – so ganz ohne Rückversicherung nach oben funktioniert magischer Schutzzauber auch bei einer Hexe nicht. So überrascht sie mit Sätzen wie: »Wenn ich bete, bekomme ich göttliche Visionen« oder »Ich fühle mich den Engeln sehr verbunden.« Das sei auch der Grund, weshalb sie beim Kartenlegen anstelle der Tarot- lieber mit Engelkarten arbeite. Sagt`s, während sie an ihrem Schreibtisch an einem kleinen Strauß Rosmarin riecht und Weihrauch um ihr Dekolleté wabert: »Das macht die Gedanken frei.«


Harzer Orginale: Der Brocken-Benno

Der Wernigeröder »Brocken-Benno« läuft nahezu täglich auf den Harzgipfel. Zu seinem 80. Geburtstag am 22. Mai 2012 hat er seinen 6.666. Aufstieg bewältigt. Unterdessen peilt der ewig Rastlose allen Ernstes sogar die 8.000 Aufstiege an. »Man muß ja die verlorenen 28 Jahre auch irgendwie nachholen«, erinnert der Extrem-Wanderer an die 1989 erzwungene Wiederöffnung des höchsten Harzgipfels.

Und so gibt es nur einen Harzwanderer, den man am besten mit dem Satz: »Sag mal ‘ne Zahl!« begrüßt. Brocken-Benno wird es nicht übelnehmen, im Gegenteil! Wie aus der Pistole geschossen wird er dann mit irgendeiner vierstelligen Nummer verblüffen. Und die wächst stetig. Das muß eigentlich auch nicht verwundern. Werden doch seine Brocken-Aufstiege akribisch genau numeriert und auf dem Gipfel per Stempel regi-striert. Auf das, was er da macht, reagiert die Öffentlichkeit ganz unterschiedlich: Mal mit Bewunderung, mal mit ungläubigem Kopfschütteln, ein anderes Mal mit Neid oder sogar mit bösartigen Unterstellungen des Selbstbetrugs. Und in der Tat scheint der Brockenwanderer mit den permanent neuen Superlativen auch auf dem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn unterwegs zu sein.

Für den Fall eines der mittlerweile seltener gewordenen nächtlichen Aufstiege hängt er, am Brocken angekommen, seine Visitenkarte an die Türklinke der Bahnhofsgaststätte: »Seht her, ich war wieder da und hole mir den Aufstiegs-Stempel dann eben morgen ab.« Ob dabei Windstärke Zwölf herrscht, was auf Goethes Blocksberg nun wahrlich keine Seltenheit ist, oder gerade wieder anderthalb Meter Neuschnee gefallen sind und der Rentner knietief in der weißen Pracht versinkt, ob es wie aus Gießkannen schüttet oder man die Hand wegen extremen Nebels nicht mehr vor Augen sieht - Brocken-Benno läßt sich von solchen Wetterkapriolen keinesfalls abschrecken.

Der Brocken ist der einzig wahre Gipfel und ein  mystischer noch dazu.

Auch als sich die Unwetterwarnungen vor dem Orkan »Kyrill« auf allen Radiokanälen überschlagen, zieht der Rentner mutterseelenallein, aber doch furchtlos auf den Harzgipfel. Als sich die Fichten um ihn herum mehr und mehr in die Waagerechte begeben oder gar gewaltsam vor und hinter ihm aus der Erde gerissen werden und den Wanderweg versperren, läuft er trotzdem weiter. Wohl wissend, daß das, was er gerade macht, eigentlich lebensgefährlich ist. Zu diesem Zeitpunkt ist das gesamte Brockenpersonal aus Sicherheitsgründen längst evakuiert. Einem Uhrwerk gleich und beinahe immer wieder auf exakt demselben Weg von Schierke über‘s Eckerloch geht es auch an diesem Tag hinauf auf den 1.142 Meter hohen Brocken.

Daß sein Regencape dabei seiner eigentlichen Funktion beraubt wird, weil es der darunter pfeifende Sturm senkrecht über seinem Kopf aufstellt, erwähnt Benno nur am Rande. Gesehen hätte er damals ohnehin nichts und pitschnaß war er auch.

»Ich halte mich trotzdem für keinen Katastrophentouristen. An solchen Tagen verzichte ich ganz bewußt darauf, etwa auf allen Vieren über die Brockenkuppe zu krabbeln! Es gibt genug Leute, die selbst davor keinerlei Skrupel haben.« 24 Stunden später wurde ihm beim nächsten Aufstieg das ganze Ausmaß der Verwüstung offenbar. Sein üblicher Weg war von insgesamt elf umgestürzten Bäumen blockiert. Die verheerenden Folgen von »Kyrill« sind rund um den Gipfel noch bis heute für jeden leicht auszumachen.

Den Umgang mit Kameras und Journalisten ist Brocken-Benno längst gewöhnt. Zeitungsartikel von Gazetten aus allen Ecken Deutschlands und der Welt beanspruchen Platz in mehreren prall gefüllten Aktenordnern. Fotos mit Politikern aller Coleur oder auch irgendwie Seelenverwandten wie Extrembergsteiger Reinhold Messner oder Tierfilmer Andreas Kieling prangen gleich dutzendfach an seinen Wohnzimmerwänden. Mal ganz abgesehen von der Anzahl jener Bilder, auf denen sich Touristen mit dem Besessenen für ihre privaten Alben ablichten lassen. Sie dürften locker in die Zehntausende gehen. Längst ist er auch schon von dem einen oder anderen Schweizer, Österreicher oder Holländer auf einem seiner Harztrips erkannt und angesprochen worden. Keine Frage: Eine gemeinsame Gipfelbesteigung mit Benno gleicht einem, dem Protagonisten durchaus schmeichelhaften, Fotoshooting. Sind doch solche Stops für den unverbesserlichen »Brocken-Fanatiker« stets eine gute Gelegenheit, auf seine Homepage hinzuweisen. Immerhin zählt ja auch dort jeder Mausklick.

Bei Benno bleibt nichts unregistriert oder gar unbeachtet. Läßt er sich doch nur zu gern in ein Gespräch verwickeln, um seine Visiten- oder auch Autogrammkarten unters restliche Wandervolk zu bringen. Selten, daß jemand nichts mit seinem Gesicht anzufangen wüßte und ihn deshalb ignoriert. Einfach zu häufig flimmert der Unermüdliche über die Mattscheiben zwischen Garmisch, Gernrode und Greifswald.

Bis zu fünfmal an nur einem Tag auf den Gipfel!

Benno ist extrem und die Medien brauchen Extreme. Das ist eine Symbiose, von der beide gleichermaßen profitieren - und das sicher auch noch während der nächsten 3.000 Aufstiege - so er sie denn bewältigt. Denn gern spricht er darüber nicht, daß ihm eines Tages die Beine den Dienst versagen könnten. Aber geliebäugelt wird mit dem 10.000. Aufstieg sehr wohl. Das wäre in der Tat die Krönung für den Wernigeröder und für ihn wahrscheinlich sehr viel mehr Wert als sein vierter Eintrag ins Guiness-Buch der Rekorde.


Letzte Chance

Otto Gräfe: „Lieber Kopf ab als arm dran“

Letzte Chance – Ein Schürzenjäger aus Kahla riskiert Leib und Leben und bezahlt dafür den Preis. Ein Buchauszug aus „Entblättert – Große Namen und ihre Liebesabenteuer“ des Autorenduos Christian Hill / Barbara Kösling.


Otto Gräfe war ein berüchtigter Schürzenjäger und machte seine Beute in und um Kahla. Anno 1557 kam auch die Frau des Pfarrers Stephan Riccius wegen Unzucht mit ihm ins Gerede. Sie leugnete die Liebschaft ab, doch das Gerücht blieb. Der Pfarrer glaubte seiner Frau, hatte aber nicht mit der Hartnäckigkeit seiner Gegner in der Gemeinde gerechnet, die ihn schon lange loswerden wollten. Denn nun hieß es obendrein, der Weiberheld Otto Gräfe hätte auch die Tochter des Pfarrers „beschlafen“.

Eine „hochnotpeinliche Befragung“ wurde angestrengt, denn ein Geständnis war Gräfe nicht zu entlocken. Beweise gab es auch nicht, und doch wurde Otto Gräfe in einem Prozess zum Tode verurteilt, Barbara Riccius öffentlich ausgepeitscht, und die Tochter kam ins Kloster. Die Hinrichtung Gräfes war für den 19. April 1558 auf dem Marktplatz von Kahla anberaumt. Wie es das Gesetz verlangte, bekam der Verurteilte eine letzte Chance. Wenn sich eine „unversehrte Maid“ fände, die ihn haben will, könnte die Todesstrafe aufgehoben werden.

„Es war der Otto ein schöner Mensch“, heißt es in der Cählischen Chronica von Matthaeus Gundermann. Eine Magd schrie aus Leibeskräften weithin über den Markt: „Ich nehm‘ ihn, ich nehm‘ ihn!“ Gräfe, der betend im Kreis um den Richtplatz ging, stutzte, schaute zu ihr hin – und bedeutete dann dem Scharfrichter, seine Arbeit zu tun. Er wurde mit dem Schwert enthauptet. Der Pfarrer verzieh seiner Frau, verließ Kahla mit ihr und wirkte noch 30 Jahre erfolgreich in Lissen bei Osterfeld. Warum die Magd nicht mit dem Tod konkurrieren konnte, ist nicht überliefert.



Erste "Entblättert"-Lesung mit über 100 Gästen bei bester Laune

16. November 2017 abends in der Thalia-Buchhandlung Jena: Über 100 neugierige Besucher waren der Einladung zur Präsentation des neuen Titels, "Entblättert. Große Namen und ihre Liebesabenteuer" vom Verlag Bussert & Stadeler, gefolgt. Was dann kam, war ein brillantes und amüsantes Wortfeuerwerk der beiden Autoren Christian Hill und Barbara Kösling zwischen Inszenierung und Stegreif, bei dem das Anbandeln mit der Liebe natürlich immer im Mittelpunkt stand, aber auch das Publikum mitspielte, zum Beispiel mit schnell ersponnener PoetrySlam-Einlage. Am Ende waren Geschichten in vielen Stimmungen erzählt: traurig, komisch, rührend, frivol. Nur langweilig wurde es niemandem dabei. Wir freuen uns auf die Fortsetzung der Lesereise in 2018!


Luise Bussert

Luise Bussert

In der Ausstellung „Mal` Mythos, mal` Traum“ sind unter anderem Illustrationen der Künstlerin zum Band „Die schönsten Sagen aus dem Harz“ und gestaltete Traumbilder zu sehen. Luisens in der Ausstellung vorgestellte Arbeiten scheinen zugleich ihrer Werkstatt entnommen – die Schau hat Werkcharakter. Ihre großformatigen Pappen mit einem starken Farbauftrag bestechen im ersten Anschauen durch ein anarchisches Zusammen von Form und Material. Genau so entstehen die großformatigen Collagen.

Luise verwendet neben der Leinwand auch Stoffe und Acessoires. Dann werden Farbkompositionen aufgebaut, Farbthemen profiliert. Das sei, sagt die junge Künstlerin, schon ein erstes sinnliches Vergnügen. Damit nicht genug, werden die entstehenden Werke auch gern Witterungseinflüssen ausgesetzt – Regen verleiht den verwendeten Farben einen aquarellierenden Effekt. Diese Farbverläufe schaffen Übergänge, bieten Korrespondenzen, lassen Nebeltäler zwischen den zuweilen schroffen Farbgebirgen entstehen.

Dann, in einer zweiten Phase, sieht die Malerin den Material- und Farbmix noch einmal neu, gewissermaßen mit einem geschärften Auge. Und plötzlich werden Strukturen sichtbar: Figurationen, absonderliche Geschöpfe schälen sich aus dem Strukturen heraus. Sie benötigen Profil – mit einem Fineliner oder spitzigen Werkzeugen hebt Luise sie aus der Formanarchie heraus. Gegenständliches, oft Landschaften, Stilleben ergänzen die Szenerie. Antiziperte Geschöpfe der Phantasie und des Traums, der Strom ikonographischer Traditionsverweise und die Forderungen des Materials geben sich ein Gewand. Aber längst nicht alles ist so geplant gewesen.

Es ist etwas Herbes im individuellen Stil der Künstlerin, was daraus entsteht. Miniaturen sind zu entdecken, aber sie wirken nicht niedlich oder knuddlig. Pittoresk sind sie gleichwohl, zuweilen grotesk. Aber zugleich kann man Traum-Miniaturen entdecken, die ein berührendes Momentum einfrieren, einen Augenblick zwischen Erinnerung und Traum.

So ist es auch kein Wunder, daß Luisens Illustrationen zu den Sagen und Mythen aus dem Harz die Schattengestalten des schroffen Gebirges versammeln: Hexen, zwielichtige Zwerge, Beelzebub persönlich. Aber wer vermißt im Umkreis des Blocksberges wirklich den Prinzen?