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Die Sage von der Rosstrappe

Die Sage führt uns in die altersgraue Zeit, in welcher noch das gewaltige Geschlecht der Hünen den Harz bewohnte. Sie erzählt von der Flucht der Königstochter Brunhilde vor dem bösen Riesen Bodo und dem Sprung auf Ihrem Pferd über das Bodetal.
Rosstrappe Emma
Illustration Luise Bussert „Die schönsten Sagen aus dem Harz“

Die Sage führt uns in die altersgraue Zeit, in welcher noch das gewaltige Geschlecht der Hünen den Harz bewohnte. Damals herrschte ein mächtiger König, dessen Gebiet sich über das ganze Gebirge erstreckte. Er hatte keinen Sohn, der nach seinem Tode sein Nachfolger hätte werden können, wohl aber war ihm eine liebliche Tochter erblüht; ihr musste seine ausgedehnte Herrschaft zufallen, wenn er dereinst die Augen schloss. Daher nahte sich der schönen Emma mancher Bewerber, um sie als sein Ehegemahl heimzuführen. Denn die Aussicht, so der mächtige Gebieter des Harzes zu werden, war verlockend genug.

Stolzen Sinnes aber wollte der König sein geliebtes, einziges Kind nur einem ebenbürtigen Herrscher geben, damit sich ihr Gebiet dereinst noch über den Harz hinaus erstrecken solle. Die schöne Emma war wohl zufrieden mit den Plänen ihres Vaters; denn sie liebte über alles die ungebundene Freiheit und fürchtete nichts so sehr wie die Fesseln, die ein Gemahl oder Eheherr ihr anlegen könnte.

Da sandte einst einer von des Königs Vasallen, der fern im Gebirge nur eine kleine Burg besaß, seinen Sohn Selmar an den Hof, auf dass er seinem Gebieter diene. Kaum hatte Emma den Jüngling erblickt, als seine Schönheit sie entzückte und seine Tapferkeit und sein edles Benehmen ihr Wohlgefallen im höchsten Grade erregten. Und als Selmar, der des Mädchens Liebe bald voll und ganz erwiderte, sie bat, sein Weib zu werden, willigte sie freudig ein.

Wie glücklich machten die Prinzessin die Beteuerungen ihres Geliebten, dass ihn nicht nach der Krone gelüste, dass er nur sie besitzen wolle, um mit ihr auf seiner einsamen, aber sicheren Burg ein Leben voll Wonne und Glückseligkeit zu führen.

Ohne Scheu trat sie deshalb vor den Vater hin und gestand ihm ihre Liebe zu dem Sohne des Vasallen; hatte sie es doch sicher noch nie erlebt, dass er seinem zärtlich geliebten Töchterchen eine Bitte abgeschlagen hatte. Wie erschrak sie daher, als ihr Vater in Zorn geriet und ihr heftig entgegnete, nur ein König bekäme ihre Hand! Und als sie endlich sah, dass kein Bitten, kein Flehen den stolzen Sinn des Vaters beugen könne, wurde sie sehr traurig. In sich gekehrt saß sie in ihrer Kammer, und selbst das Wiehern ihres Lieblingspferdes vermochte sie nicht ins Freie zu locken.

Den Vater schmerzte das Hinwelken seines Töchterleins. Endlich glaubte er einen Ausweg gefunden zu haben. Er ließ Emma und Selmar vor seinen Thron kommen und begann also: »Ist Deine Liebe zu meiner Tochter so groß, Selmar, dass Du mutig gegen schwere Gefahren kämpfen würdest, um ihren Besitz zu erlangen?« »Fordere, was Du willst, mein Gebieter; für Deine Tochter wage ich alles.« Der König fuhr fort: »Wenn es also ist, wie Du sagst, so wird Dir mein Verlangen gering erscheinen und Du wirst es mit Leichtigkeit erfüllen. Du magst also nach Island wandern, wo am Fuße des Hekla eine starke Burg erbaut ist. Ein gewaltiger Riese, der Erbfeind meines ganzen Geschlechts, haust in der Feste. Ihn zu bezwingen und zu töten sei Deine Aufgabe. Zwei Jahre soll meine Tochter Deiner harren; doch bist Du dann noch nicht heimgekehrt, so gebe ich sie einem anderen zum Weibe.«

Mit Entsetzen hatte Emma diese Worte vernommen; sie wusste, dass schon mancher Tapfere dorthin gezogen war, das Ungeheuer zu bekämpfen, aber noch keiner war lebend zurückgekehrt. Doch blieb den Liebenden nichts übrig, als sich dem Entschlusse des Königs zu fügen.

Selmar zog bald von dannen mit den tröstlichen Worten, dass die Liebe zu Emma seine Kräfte stählen und er siegreich heimkehren werde; sie möge nur geduldig und treu seiner Rückkehr harren.

Monde um Monde verrannen; noch immer war die Königstochter von Traurigkeit umfangen. Zwar suchte sie Trost zu finden, indem sie in wilder Hast zu Ross das Gebirge durchjagte; aber es war vergeblich.

Aber ihr Unglück sollte noch größer werden. Eines Tages teilte ihr der Vater mit, dass der König des Riesengebirges, der mächtige Bodo, sie zum Weibe begehre, und dass er die Werbung dieses großen Herrschers freudig angenommen habe. Emma war entsetzt bei dem Gedanken, das Weib dieses Unholdes, der ein böser Zauberer war, zu werden. Seine feurig rollenden Augen und sein schrecklich großes und hässliches Gesicht flößten ihr Schauder ein. Sie beschwor ihren Vater, sie diesem Grässlichen nicht zu opfern; aber auf alle ihre Bitten entgegnete derselbe, dass er solch einen Freier unmöglich abweisen könne.

Da drang Emma in ihren Vater, doch des Versprechens zu gedenken, welches er Selmar gegeben, und wenigstens die jenem gesteckte Frist abzuwarten. Nach einigem Zögern willigte der König ein; denn er glaubte, dass Selmar niemals heimkehren werde. Den mächtigen Bodo wusste er zu beschwichtigen und ihn noch ein Jahr hinzuhalten mit dem Versprechen, dass dann seiner Vermählung mit Emma nichts mehr im Wege stehen solle.

Die beiden Jahre waren vorüber, vergeblich stand Emma von früh bis spät auf den Zinnen der Burg und spähte in die Ferne; Selmar kehrte nicht heim. Wohl aber sah sie jetzt den schrecklichen Bodo nahen, der kam, sie zu holen. Auf ungeheurem schwarzen Ross flog er daher, und Angst und Bange wurde ihr, wie sie an seiner Seite einen mächtigen, weißen Zelter ohne Reiter entdeckte, der augenscheinlich bestimmt war,sie in die Heimat des Verabscheuten zu tragen. Jetzt übergab er seinem Knappen die Pferde und betrat die Burg, die von seinen dröhnenden Schritten widerhallte. Die Unglückliche aber trieb es hinaus in den Wald. Dort wollte sie Abschied nehmen von den Plätzen, an denen sie einst glücklich gewesen war mit dem Geliebten.

So lehnte sie unter einer mächtigen Eiche, von deren Fuß die Liebenden einst hinausgeblickt in die Ferne – da plötzlich trat der Heißersehnte ihr entgegen! Jauchzend flog sie in die Arme des Geliebten und im Wonnerausch des Wiedersehens vergaßen beide alles Leid, alles Ungemach. Bald aber erwachte Emma aus ihrem Glückstraum, und die Gegenwart mit all ihren Schrecken trat vor ihre Seele. Sie bemerkte die schweren Verwundungen ihres Selmar, die er vom harten Kampf mit dem Riesen davongetragen – und sie klagte dem Geliebten das bittere Leid, das ihr der Vater angethan und das sie nun wohl aufs neue trennen würde.

Zwar wollte Selmar, außer sich vor Schmerz und Zorn, sogleich auf die Burg eilen, um den gehassten Nebenbuhler zu töten; doch gab er Emmas Bitte nach, die ihm vorstellte, dass er nach den überstandenen Strapazen noch zu schwach sei und bei dem ungleichen Kampf unterliegen müsse. Nur List konnte die Geliebte den Händen des Unholds entreißen, und lange sannen beide hin und her. Endlich glaubten sie einen Ausweg gefunden.

Ruhig, ja heiter betrat bald darauf Emma die Burg ihres Vaters, indessen Selmar sich in der Nähe verbarg. Der wilde Bodo war entzückt von seiner reizenden Braut und überreichte ihr viele wertvolle Geschenke, unter denen sich auch der weiße Zelter befand. Freundlich dankend nahm Emma alles entgegen; als er ihr aber das Pferd übergab, zeigte sie sich so hocherfreut, dass sie bat, es doch gleich einmal besteigen zu dürfen. Gern willfahrte der Riese diesem Wunsche und lehrte sie alle Zauberformeln, die sie anwenden müsse, um den Zelter zu leiten. Vermittels dieser Formeln konnte sie das Ross zum rasenden Galopp anspornen.

Das Hochzeitsmahl sollte nun stattfinden. Emma erschien im glänzenden Gewande, die strahlende Krone der Harzkönigin, aus der Hunderte von Edelsteinen blitzten, in den blonden Haaren. Bodo berauschte sich im Anblick seiner Braut, und selbst der Vater schaute mit Entzücken auf die reizende Erscheinung. Mit großer Besorgnis hatte er bisher an den für die Hochzeit festgesetzten Tag gedacht, da er fürchtete, sein widerspenstiges Töchterchen werde sich nicht fügen. Jetzt war alle Sorge vergessen. Emma selbst versäumte nicht, die leeren Krüge immerfort mit frischem Met zu füllen, bis der Jubel mehr und mehr verstummte und sich in Folge des reichlich genossenen Getränks eine unwiderstehliche Müdigkeit aller Festgenossen bemächtigte.

Auf diesen Augenblick hatte Emma gewartet. Schnell eilte sie hinaus und bestieg ihren weißen Zelter. Selmar war ihr gefolgt und versuchte, sich des schwarzen Rosses zu bemächtigen, um den Riesen an der Verfolgung zu hindern. Aber weder Selmar noch Emma kannten die Zaubersprüche, durch welche das Pferd allein zu lenken war. Sowie sich ihm jemand nahte, schlug es wutschnaubend mit den Hufen. Emma trieb ängstlich zur größten Eile, und so blieb ihnen kein anderer Ausweg, als dass Selmar sich hinter die Geliebte auf den Zelter schwang. Jetzt ging es in wildester Flucht von dannen! Fortstürmend wollten sie versuchen, die Burg Selmars zu erreichen, die für jeden, selbst für einen Zauberer, unzugänglich war.

Aber kaum war der Zelter nur durch die Thore der Burg gesprengt, da erhob der zurückgebliebene Rappe ein furchtbares Gewieher, dass die Berge davon wiederhallten und Bodo aus seiner Trunkenheit aufgeschreckt wurde. Wutschnaubend bemerkte er die Flucht seiner Braut, schwang sich auf sein Pferd und stürmte wie auf Windesflügeln den Flüchtigen nach. Immer rasender wurde der Ritt; denn Emma, als sie den Verfolger gewahrte, gebrauchte die stärksten Zauberformeln, um ihr Pferd zur Eile anzutreiben, und wie ein Gewittersturm ging es über Klippen und Höhen.

Schon schlug des höhnische Lachen des Riesen an ihre Ohren. Voller Angst stürmten sie weiter, als sie die Äste einer Eiche so nahe streiften, dass dieselben Selmar zu Boden schleuderten. Entsetzt bemerkte Emma den Sturz des Geliebten; aber sie durfte nicht innehalten. Selmar war ein Mann und musste im Kampf sein Heil versuchen; sie dagegen musste an ihre Rettung denken, denn der Gefürchtete kam näher und näher. Unbeachtet ließ auch Bodo Selmar liegen. Ihn sollte seine Rache später treffen. Jetzt galt es ihm nur, Emma wiederzuerlangen.

Da plötzlich scheute Emmas Pferd, und vor sich sah sie einen gähnenden Schlund, in welchem große Wassermassen zischend und tosend dahinschossen. Sie hatte den Abgrund des Bodetalkessels erreicht. Von Angst und Verzweiflung getrieben, suchte sie einen Ausweg; doch vergeblich: rückwärts konnte sie nicht, ohne in Bodos gefürchtete Hände zu fallen, und vor ihr tat sich nur der entsetzliche Schlund auf, den an der anderen Seite ebenso schroffe Felsengebilde begrenzten. Verzweiflungsvoll spähte sie umher. Mit triumphierendem Gefühl nahte jetzt ihr Verfolger, der schon die schöne Beute in seinem sicheren Besitze wähnte. Grauen und Furcht trieben Emma bei seinem Anblick zum Äußersten. Noch einmal schaute sie nach dem gefürchteten Unhold zurück, dann wagte sie das Schreckliche, sprach die stärkste Zauberformel, gab ihrem Pferde die Sporen und flog über den Abgrund wie ein Blitz!

Rosstrappe Emma
Illustration Emma

Die goldene Krone löste sich bei dem gewaltigen Sprunge aus ihren Haaren und fiel in den Fluss, der unten vorbeiströmte; sie aber erreichte das jenseitige Ufer, auf welches das Pferd mit dem Hufe gewaltig aufschlug, dass derselbe sich tief in dem harten Felsen eindrückte. Bis auf den heutigen Tag ist dieser Eindruck noch sichtbar.

Nach dem Sprunge aber sank das Tier erschöpft nieder. Auch die Reiterin war fast ohnmächtig zusammengebrochen; nur die Kraft blieb ihr, noch einmal ängstlich nach ihrem Verfolger zurückzuspähen. Wütend hatte dieser Emmas Tat der Verzweiflung gesehen, aber er war nicht willens, sich im letzten Augenblick noch seine Beute entgehen zu lassen. Alle Kräfte aufbietend, spornte er sein Pferd zum gewagten Sprunge an und flog von dem Felsen über den Abgrund dahin. Aber was der kühnen Emma gelungen war, ihm glückte es nicht; sein Pferd sprang zu kurz, und mit furchtbarem Gebrüll stürzten Ross und Reiter in den brausenden Strom. Da verwandelte sich Bodo im Sturze vermittels seiner Zauberkünste in einen riesigen Drachen, und da er an derselben Stelle niederstürzte, an der auch Emmas Krone niedergefallen war, bewacht er seitdem mit eifersüchtigen Augen die Krone.

Rosstrappe, Bodo
Illustration Ritter Bodo

Kein Wesen darf sich nahen, um sie dem nassen Element zu entreißen. Der wütende Drache tötet alle, die dies Wagnis unternehmen. Wenige haben auch nur den tollkühnen Versuch gemacht; denn das Brausen und Tosen des Wassers, das schäumend aus dem Kessel emporspritzt, in welchem Krone und Drache ruhen, erfüllte alle mit Grausen und hielt sie von dem Furchtbaren zurück. Nur einer hat es nach Jahren gewagt, sich in die grause Tiefe zu stürzen; doch nicht um in den Besitz der kostbaren Krone zu gelangen, sondern weil Ritterehre ihn zwang, ein gegebenes Wort einzulösen.

Emma hatte den furchtbaren Sturz ihres Verfolgers gesehen, und das selige Gefühl der Befreiung stählte ihre Kräfte, so dass sie bald in die väterliche Burg zurückkehren konnte. Als dann auch Selmar vor dem Throne des Königs erschien, wurde er als Besieger des gefürchteten Feindes in Island freundlich empfangen, und seiner Verbindung mit Emma wurde kein Hindernis mehr in den Weg gelegt.