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Die Sage vom Zwergenkönig Hübich

Der König war tätigen Menschen gut gesinnt und zeigte sich nur gegen diejenigen boshaft und neckisch, die in den Waldungen Schaden anrichteten oder seinem Völkchen unrecht thaten.
Illustration, Zwergenkönig Hübich
Illustration Luise Bussert, „Die schönsten Sagen aus dem Harz“

In altersgrauer Zeit, als noch die Riesen auf Erden wandelten, ging einst ein solch gewaltiger Geselle bei Grund vorbei. Da spürte er einen empfindlichen Druck am Fuße. Er zog seinen Schuh aus, und sah, dass nur ein Stein ihn gedrückt hatte. Den schüttete er aus. Der Stein blieb dicht bei Grund liegen.

Was aber für den Riesen nur ein Steinchen war, das waren für die gewöhnlichen Menschen ein paar mächtige, aneinanderstehende Kalksäulen. In denen hauste der Zwergenkönig Hübich mit seinen Unterthanen. Diese hatten daher den Namen Hübichenstein erhalten.

Der König war tätigen Menschen gut gesinnt und zeigte sich nur gegen diejenigen boshaft und neckisch, die in den Waldungen Schaden anrichteten oder seinem Völkchen unrecht thaten. Obgleich Hübich nur ein winzig kleines Männlein war, hatte er die Macht, sich gewaltig auszurecken und war dann schrecklich anzusehen. Sein Gesicht war grau und alt, von zottigen Haaren umgeben, und sein langer, eisgrauer Bart, in welchem er zauberische Kraft besaß, floss bis auf die Brust herab. In der Hand trug er ein Grubenlicht, welches so hell wie eine Sonne schien und in dessen Glanze die goldene Krone auf seinem Haupte wunderbar schön erstrahlte.

Der Hübichenstein wurde auch wohl die Zwergkanzel genannt, doch diejenigen, die es wagten, den Fels zu erklimmen, wurden von dem Zwergkönig in die Tiefe gestürzt. Einst aber ging der Sohn des Försters aus Grund, Hans geheißen, mit seinem Freunde dort spazieren. Der meinte zu Hans, dass es überhaupt unmöglich sei, diese steile Höhe zu erklimmen. Da packte Hans der Übermut, und mit erstaunlicher Geschwindigkeit begann er den steilen Berg zu erklimmen.

Der Freund bat ihn, doch um Gottes willen von seinem Vorhaben abzustehen; er möge an Hübich denken, der keinen auf seinem Felsen dulde und ihn sicher herabstürzen würde. Doch Hans lachte nur ob der Mahnung. Dabei klomm er höher und höher, und bald hatte er den Gipfel des Berges erreicht. Hier tanzte und sprang er jauchzend herum; erst nach längerer Zeit schickte sich an, wieder hinunterzuklettern.

Doch was war das? So sehr Hans sich auch mühte, es war ihm unmöglich, auch nur einen Schritt vorwärts zu tun. – Mit größter Angst sah der Freund die vergeblichen Bemühungen, ohne ihm irgenwie helfen zu können; denn jener wurde von unsichtbarer Macht gehalten. Er stürzte fort, um Hansens Vater zu holen. Auch der Förster wusste keinen Rat und blickte ratlos hinauf zu dem klagenden Sohne. Stundenlang erneuerte dieser seine vergeblichen Versuche, stundenlang bat Hans, sein Vater möge ihm doch helfen; denn dort oben langsam zu verhungern, sei ein zu entsetzlicher Tod.

Zuletzt bat er seinen Vater, ihn von dort oben herunterzuschießen. Und nach langem verzweifelten Zaudern schickte sich der Förster an, den Wunsch seines Sohnes zu erfüllen. Als er aber mit zitternder Hand zu zielen begann, trat ihm Hübich entgegen. »Was beginnst Du?« fragte er finster den Förster. »Lass ab von so törichtem Tun!« Damit verschwand er so plötzlich, wie er gekommen. Statt seiner erschienen viele boshafte kleine Zwerge. Sie warfen mit Tannzapfen und fuhren mit Zweigen über des Försters Gesicht, so dass an ein weiteres Zielen gar nicht zu denken war.

So entschloss sich der Förster, jetzt seinen Sohn zu verlassen; damit er bei Tagesanbruch gekräftigt sei, um sein Vorhaben ausführen zu können. Kaum aber war er verschwunden, so begann an dem Berge ein reges Leben. Hunderte von winzigen Zwergen trugen kleine Leitern herbei. Mit Windeseile fügten sie dieselben aneinander und in kurzer Zeit hatte das geschäftige Völkchen den Gipfel erreicht. Ein Zwerg hob Hans auf die Schultern und trug ihn die lange Leiter hinab. Unten angelangt, stellte der Zwerg seine Bürde nieder und verschwand mit allen kleinen Wichten. Wie im Traum blickte Hans umher, als er plötzlich Hübich vor sich sah.

»Nun, Bursche,« hob dieser an, »da hast Du einmal eine ordentliche Angst ausgestanden. Sieh, so geht’s denen, die sich fürwitzig in meinen Bereich wagen. Und hätte ich nicht gewusst, dass Du sonst ein braver Bursche bist, so lägst Du zerschmettert hier unten. Doch will ich Dich jetzt entschädigen und Dich in mein Schloss führen. Dort wirst Du wohl die ausgestandene Angst vergessen.«

Vor sich in der Felswand erblickte Hans plötzlich ein offenes Tor. Durch dieses führte der Zwergenkönig seinen Gast in einen weiten Saal. Prächtig flimmerte und glänzte es hier, so dass der Försterssohn anfangs ganz geblendet war. Von der hohen Decke herab hing ein krystallener Kronleuchter. Die Wände waren von glitzerndem Stufenerz, reich mit Gold und Silber verziert.

Hans war so im Anschauen versunken, dass der König ihn wiederholt anrufen musste. Aber die offenen und freien Antworten des Burschen schienen dem Alten wohl zu gefallen, denn wiederholt nickte er ihm gütig zu.

Dann stand er auf und hieß Hans, ihm zu folgen. Als sie einige Räume durchschritten hatten, gelangten sie in einen Saal, der fast noch größer war als der erste. Auch dieser Raum war prächtig ausgestattet. An einer Seite desselben lag lauter Silber, an der andern Gold. Auf dieses wies der Zwergkönig und befahl dem Försterssohn, wenn er Gold« rufe, von diesem zu nehmen, wenn er aber »Silber« sage, auf der andern Seite zuzugreifen.

Illustration, Zwergenkönig Hübich
Illustration Luise Bussert, „Die schönsten Sagen aus dem Harz“

Nun kommandierte Hübich unaufhörlich: »Gold, Silber! Gold, Silber!« Alle Taschen, Tuch und Mütze waren bald voll. Da rief der König: »Jetzt ist’s genug; doch nun höre: auch ich habe eine Bitte an Dich. Sieh, solange der große Hübichenstein der große bleibt, darf ich auf Erden umherwandern und kann vielen Gutes tun; wird derselbe aber zum kleinen Hübichenstein, dann habe ich meine Herrschaft auf der Oberwelt verloren. Darum bitte ich Dich, Sorge zu tragen, dass keiner mehr hier in der Nähe nach Raben und Falken schießt, denn durch das Gedröhn der Schüsse lösen sich Felsbröckchen ab und mein Reich wird kleiner und kleiner.«

Hans versprach den Wunsch Hübichs zu erfüllen und gelobte ihm, dass keiner fortan es wagen solle, durch Schießen sein Gebiet zu gefährden. Dann überfiel ihn plötzlich eine so unwiderstehliche Müdigkeit, dass er gezwungen war, sich niederzulegen und auch sofort einschlief.

Durch heftigen Frost geschüttelt erwachte er und rieb sich verwundert die Augen. Da sah er, dass er unten am Fuße des Hübichensteins lag. Aber neben ihm lag all das Gold und Silber, welches er von Hübich erhalten hatte. Schnell packte er die Schätze zusammen und eilte zu seinem Vater, der in Angst und Sorge schlaflos die Nacht verbracht hatte und jetzt gerade wieder zum Hübichenstein hinausgehen wollte. Mit Staunen wurden die mitgebrachten Herrlichkeiten betrachtet. Einen großen Teil seines Reichtums gab Hans den Armen, dann aber ging er zur Obrigkeit – es wurden Schritte getan, das Schießen nach dem Hübichenstein zu verhindern. So hat man auch den Zwergenkönig noch lange im Walde umhergehen sehen. Manchem hat er noch Gutes getan, aber auch manchen bestraft.

Illustration Luise Bussert, „Die schönsten Sagen aus dem Harz“

Als aber der dreißigjährige Krieg übers Land zog und auch in Grund viele Kaiserliche lagen, da haben sie die Geschichte von dem Hübichenstein erzählen hören. Das war für die wilde Kriegshorde ein willkommener Spaß! Mit Karthaunen haben sie die Spitze des Berges herabgeschossen, so dass derselbe zum kleinen Hübichenstein geworden ist. Somit hatte denn Hübichs Regiment auf der Oberwelt sein Ende erreicht, und keiner hat ihn seit jener Zeit wieder gesehen. Den Eingang, der in des Zwergkönigs Schloss führte, bezeichnet eine Grotte, und wenn es Euch gelüstet, Hübichs Schätze zu schauen, so versucht nur, ob Ihr durch denselben nicht tiefer in sein Reich zu dringen vermögt.