Die Zwerge von Wernigerode

Rings um Wernigerode wohnten hunderte von Zwergen; in den Bergen, im Tiergarten, ja selbst in den Teichen hatten sie ihre Schlupfwinkel.
Illustration Luise Bussert, „Die schönsten Sagen aus dem Harz“

Die Sage von den Zwergen von Wernigerode

Die Zwerge von Wernigerode
Illustration Luise Bussert, "Die schönsten Sagen aus dem Harz"

Rings um Wernigerode wohnten hunderte von Zwergen; in den Bergen, im Tiergarten, ja selbst in den Teichen hatten sie ihre Schlupfwinkel; dort, wo jetzt der Teichdamm sich befindet, war ehemals ein wirklicher Teich; die Zwerge aber, die denselben bewohnten, nannte man Nickel. Waren sie auf dem Lande gewesen und wollten wieder hinab in ihre Behausung, so schlugen die Kleinen mit einer Rute auf das Wasser, – sofort teilte sich dasselbe und tat sich wieder zu, wenn die Zwerge hindurchgeschritten waren. Oft nahmen die Nickel auch Kinder mit in ihre Höhlen, welche unter dem Teiche lagen und von Gold und Silber strotzten; darum fürchteten die Bewohner von Wernigerode sich sehr vor ihnen.

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Eine Frau, die in Röschenrode wohnte, hatte ein kleines Kind, welches gar nicht gedeihen wollte. Anfangs war es rund und voll gewesen, hatte ein niedliches Gesichtchen gehabt, plötzlich aber wurde es grau und mager, und nur der Kopf nahm an Stärke zu, ja, er wurde ungestaltet dick. Die Mutter härmte sich über die Verwandlung, die mit ihrem Liebling vorgegangen war, und fragt alle um Rat, aber keiner konnte ihr helfen. Als nun das Kind sechs Wochen alt war, nahm es die Frau, um mit ihm in die Kirche zu gehen und es einsegnen zu lassen, wie das damals Brauch war.

Kaum aber hatte sie die große Brücke betreten, die nach Wernigerode führte, als aus dem Wasser heraus eine grobe Stimme rief: »Kuhlkropf, wo willst Du hin?« Wie erschrak aber die gute Frau, als ihr kleines, sechs Wochen altes Kind mit kräftiger Stimme entgegnete: »Ich will nach der Lieben-Frauen und mich lassen weihen, Dass ich mag gedeihen.«

Auf einmal wurde es ihr klar, dass sie einen Nickel anstatt ihres eigenen Kindes gehegt und gepflegt hatte, und laut aufschreiend warf sie das kleine Geschöpf ins Wasser. Die Fluten teilten sich, und der Zwerg war verschwunden. Als aber die Frau klagend und jammernd über den Verlust ihres geliebten Kindes zu Hause wieder anlangte, da, zu ihrer größten Freude, lag das kleine Wesen so rosig und lieblich wie nie zuvor in seiner Wiege und schlummerte.

Auch die Zwerge vom Kreuzberge hatten einer Mutter ihr Kind vertauscht und diese merkte es lange nicht. Endlich kam sie hinter den Betrug; um sich aber vollends zu überzeugen, holte sie eine halbe Eierschale und kochte Wasser darin. Wie dies das Kind sah, fragte es: »Mutter, wat wutte da maken?« – »Dik Thee inne kooken,« war die Antwort. Da blickte das kleine Geschöpfchen verwundert und rief: »Sau bin ick doch sau oolt Wie de Schimmelvoolt. Dreimal e hacket un dreimal e koolt, Und häwwe noch nicht eseihn in de Eierschal Water kooken.«

Kaum hatte das Zwergkind sich durch diese Worte verraten, als es auch verschwunden war und an seiner Stelle das richtige Söhnchen der Leute stand. Der Knabe erzählte seinen Eltern viel von den Zwergen, bei denen er gewohnt; dass sie immer gut und freundlich zu ihm gewesen seien, dass er dort von Gold und Silber gegessen hätte und des Nachts in einer Mütze geschlafen habe, aber so weich und schön, wie in seinem Bette. Habe er beim Spielen sein Zeug zerrissen, so hätte ein Zwerg nur darüber gestrichen und es sei wieder heil gewesen, ebenso hätten sie jede Wunde, die er durch Fallen oder Stoßen sich zugezogen, nur durch einfaches Handauflegen geheilt. Der Zwerg, der ihn hierhergebracht, habe ihm auch gesagt, er solle den nächsten Sonntag allein vor die Höhle kommen und ihn rufen.

Als der Sonntag gekommen war, ging der Knabe hinaus zum Kreuzberg, und auf sein Rufen erschien sofort einer der Zwerge, war aber gar nicht so freundlich wie gewöhnlich, sondern schalt den Kleinen, dass er so vieles ausgeschwatzt habe. Dann gab er ihm hundert Taler und bestimmte, wem davon abgegeben werden solle. Als Bedingung aber forderte er, dass Fritz fernerhin verschwiegen sei. Außerdem solle jeden Morgen auf dem Fensterbrett Geld für ihn und seine Eltern liegen, doch jedesmal, bevor er es herabhole, müsse er sich ja waschen und dürfe auch nicht den Seinen verraten, woher er das Geld nähme. Nachdem alles genugsam beredet, ging der Knabe nach Hause, wo seine Eltern schon ängstlich auf ihn warteten.

So wie der Zwerg gesagt hatte, geschah es: jeden Morgen lagen mehrere Groschen, gerade soviel, wie das Tagelohn der Eltern betrug, auf dem Fensterbrette, und Fritz brachte es allemal, wenn er sich gewaschen hatte, seinen Eltern. Diese waren neugierig genug, zu erfahren, woher wohl der Knabe immer das Geld nähme; eines Morgens schlich deshalb die Mutter heimlich dem Kleinen nach. Sowie sie sich aber vorbeugte, dann bekam sie einen heftigen Nasenstüber, und gleichzeitig rief es: »So neugierig, wie Du, sind alle Frauensleute!« Die Schmerzen in der Nase wurden aber bald so heftig, dass die Frau zum Arzt schicken musste. Da sie sich aber schämte, dem Doktor den Ursprung der Krankheit zu sagen, konnte dieser ihr nicht helfen, und die Anschwellung wurde immer schlimmer. Als nun der Sonntag kam und der Knabe wieder zur Zwerghöhle ging, gab ihm einer der Zwerge einen Topf mit einer Salbe darin und bedeutete ihn, davon auf die Nase seiner Mutter zu schmieren, auch sonst den Inhalt bei Krankheiten zu gebrauchen, allemal würde diese Salbe helfen. Glücklich brachte Fritz das Töpfchen heim und befreite seine Mutter sofort von ihrer Qual.

Später mussten die Zwerge fortziehen, – nach dem Rammelsberg zum Kaiser Otto, wie sie sagten, – und da haben sie den Fritz so überreich mit Schätzen bedacht, dass er Ritter von der Harburg wurde und angesehen und glücklich dort noch viele Jahre lebte.

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