Die Sage von Heinrich dem Löwen und wie er zu seinem Namen kam
Vorzeiten zog Herzog Heinrich, der edle Welfe, ins Gelobte Land. Das tat er zur Buße, denn er hatte sich mit seinem Kaiser überworfen. Seine Frau Mathilde musste er zurücklassen.
Viele Gefahren musste der Herzog im Morgenland bestehen. Einmal befand er sich in einem wilden Wald. Hier sah er einen fürchterlichen Lindwurm gegen einen Löwen streiten, und der Löwe schwebte in großer Not. Weil aber der Löwe für ein edles und treues Tier gilt und der Wurm für ein böses, giftiges, sprang Heinrich dem Löwen bei. Der Lindwurm schrie und wehrte sich lange Zeit. Endlich gelang es dem Helden, ihn mit seinem guten Schwert zu töten. Da nahte sich der Löwe, legte sich zu des Herzogs Füßen neben den Schild auf den Boden und verließ ihn nimmermehr von dieser Stunde an.
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Nach langen Reisen und Zeit in der Fremde überlegte Heinrich, wie er aus dieser Einöde und der Gesellschaft des Löwen wieder zu seiner Frau gelangen könnte. So baute er sich ein Floß aus zusammengelegtem Holz, mit Reis durchflochten, und setzte es aufs Meer. Als nun einmal der Löwe in den Wald jagen gegangen war, bestieg Heinrich sein Fahrzeug und stieß vom Ufer ab. Der Löwe aber kam bald zum Gestade, sah das Floß am Horizont – und sprang in die Wogen und schwamm so lange, bis er das Floß erreichte, wo er sich ruhig niederlegte.
So fuhren sie gemeinsam auf den Meereswellen, doch bald überkam sie Hunger und Elend. Zu allem Überdruss erschien dem Herzog der böse Teufel und sprach: »Herzog, ich bringe dir Botschaft; du schwebst hier in Not auf dem offenen Meere, und daheim zu Braunschweig ist lauter Freude und Hochzeit. Denn heute Abend hält ein Fürst aus fremden Landen Beilager mit deinem Weibe. Die gesetzten sieben Jahre seit deiner Ausfahrt sind verstrichen.«
Traurig versetzte Heinrich, das möge wahr sein, doch wolle er sich an Gott wenden, der alles wohl mache. »Du redest viel von Gott«, sprach der Versucher, »der hilft dir nicht aus diesen Wasserwogen. Ich aber will dich noch heute zu deiner Gemahlin führen, wenn du mein sein willst.«
Sie redeten hin und her, denn der Herzog wollte sein Gelübde gegen Gott nicht brechen. Da schlug ihm der Teufel vor, er wolle ihn ohne Schaden – erst ihn und dann den Löwen – noch heut‘ abend auf den Giersberg vor Braunschweig tragen und hinlegen. Da solle er seiner warten. Finde er ihn aber nach seiner zweiten Ankunft schlafend, so sei er ihm und seinem unterirdischen Reiche verfallen. – Der Herzog, von heißer Sehnsucht nach seiner geliebten Gemahlin gequält, ging darauf ein und hoffte auf des Himmels Beistand. Da ergriff ihn der Teufel, führte ihn schnell durch die Lüfte bis vor Braunschweig, legte ihn auf dem Giersberg nieder und rief: »Nun wache, Herr! Ich kehre bald wieder.«
Heinrich aber war auf ‘s höchste ermüdet, er kämpfte vergeblich gegen den Schlaf. Inzwischen fuhr der Teufel zurück um auch den Löwen abzuholen; es währte nicht lange, so kam er mit dem treuen Tier dahergeflogen. Als nun der Teufel, noch aus der Luft herunter, den Herzog auf dem Giersberge ruhen sah, freute er sich schon im voraus.
Er hatte gewusst, dass der Fürst würde schlafen müssen, denn die Anstrengungen der Floßfahrt forderten ihren Tribut. – Allein der Löwe, der seinen Herrn für tot hielt, hub laut zu brüllen an, so dass Heinrich in demselben Augenblick erwachte. Da sah der Böse sein Spiel verloren und bereute es bitter, das wilde Tier herbeigeholt zu haben. Er warf den Löwen aus der Luft zu Boden, dass es krachte.
Zur Burg war Heinrichs nächster Gang, und der Löwe folgte ihm immer nach. Großes Getön scholl ihnen entgegen. Er wollte in das Fürstenhaus treten, da wiesen ihn die Diener zurück. »Ich bitte nur«, sagte der Herzog, »die Braut um einen Trunk Wein, mein Herz ist mir ganz matt.« Da lief einer von den Leuten hinauf zur Fürstin und hinterbrachte den Wunsch des Fremden, dem ein Löwe mitfolge, um einen Trunk Wein. Die Herzogin verwunderte sich, füllte ihm ein Glas mit Wein und sandte es dem Pilgrim. »Wer magst du wohl sein«, sprach der Diener, »dass du von diesem edlen Wein zu trinken begehrst, den man allein der Herzogin einschenkt?«
Der Pilgrim trank, nahm seinen gold‘nen Ring und warf ihn in den Becher und hieß diesen der Braut zurücktragen. Als diese den Ring erblickte, worauf des Herzogs Schild und Name geschnitten war, erbleichte sie, stand eilends auf und trat an die Zinne, um nach dem Fremdling zu schauen. Sie war des Herrn inne, der da mit dem Löwen saß. Sie ließ ihn in den Saal entbieten und fragen, wie er zu dem Ringe gekommen wäre und warum er ihn in den Becher gelegt hätte. »Von keinem hab ich ihn bekommen, sondern ihn selbst genommen, es sind nun länger als sieben Jahre; und den Ring hab ich hingelegt, wo er billig hingehört.«
Als man der Herzogin diese Antwort hinterbrachte, schaute sie den Fremden genau an und fiel vor Freude zu Boden, weil sie ihren geliebten Gemahl erkannte. Sie bot ihm ihre weiße Hand und hieß ihn willkommen. Dem jungen Bräutigam aber wurde ein schönes Fräulein aus Franken angetraut, und damit war er zufrieden.
Hierauf regierte Herzog Heinrich lange und glücklich in seinem Reich. Als er in hohem Alter verstarb, legte sich der Löwe auf des Herrn Grab und wich nicht davon, bis auch er verschied. Das Tier liegt auf der Burg begraben, und seiner Treue zu Ehren wurde ihm eine Säule errichtet.
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