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Die Daneilshöhle

Am nördlichen Abhang des Berges nun, findet man eine künstlich ausgehauene Felsenhöhle. Hier lebte einst ein Räuber, Daneil geheißen.
Daneilshöhle
Illustration Luise Bussert, „Die schönsten Sagen aus dem Harz“

Die Sage von der Daneilshöhle

Daneilshöhle
Illustration Luise Bussert, "Die schönsten Sagen aus dem Harz"

Es kam einmal, dass der alte steinerne Roland auf dem Markt zu Halberstadt ein Beichtvater wurde, und zwar der Beichtvater eines armen geängstigten Weibes, welches dadurch aus seinem Unglück gerettet wurde. Die Sache aber verhielt sich so. Nördlich von der Stadt, etwa eine Meile Weges, breitet sich ein dunkler, bewaldeter Höhenzug; von seinem Gipfel grüßen die Türme eines alten Klosters den Wanderer. Viel hat der Wald geschaut in alter, wildbewegter Zeit.

Ritter und fromme Mönche, Wegelagerer und allerlei verlorenes Volk haben hier gehaust. Dröhnende Schwerthiebe tapferer Krieger mischten sich mit Orgeltönen, Kampfrufe und Schelmenlieder mit dem frommen Ave der Mönche. Was könnten die Bäume alles erzählen, deren Rauschen so wohltuend uns umfängt! Selbst auf den großen Schwedenkönig haben sie einst herabgeschaut und haben ihm Schatten gespendet auf beschwerlichem Marsche, als den Helden sein Siegeszug durch ihr Revier führte.

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Am nördlichen Abhang des Berges nun, auf welchem sich das Kloster erhebt, findet man eine künstlich ausgehauene Felsenhöhle. Hier lebte einst ein Räuber, Daneil geheißen. Das war ein grimmiger Geselle, der die ganze Umgegend in Angst und Schrecken versetzte. Keiner hatte eine Ahnung, wo sich sein Schlupfwinkel befand; wohlweislich verschonte er die nächste Nachbarschaft mit seinen Überfällen und Raubzügen. Zudem war er so vorsichtig, seinem Pferde die Hufeisen verkehrt aufzuschlagen, damit dessen Spuren nicht zu Verrätern werden könnten. Spät am Abend, wenn es dunkelte, zog er hinaus und vor Tagesanbruch kehrte er schon heim; kein Mensch in dieser Gegend sollte ihn erblicken. Er selbst aber sah jeden, der sich seiner Höhle nahte; denn verborgene Drähte, welche im Innern mit kleinen Glocken in Verbindung standen, hatte er mit grosser Schlauheit rings um seine Behausung gelegt. Sowie ein Fuß diese Drähte berührte, gaben die Glöckchen ihm ein Zeichen.

Daneilshöhle, kleine Glocken
Illustration Luise Bussert, „Die schönsten Sagen aus dem Harz“

Eines Morgens hatte er sich eben zum Schlafen hingestreckt, als der Ton einer Glocke ihn störte. Schnell sprang er auf, um zu sehen, ob ihm Gefahr drohe, als er ein anmutiges Mädchen gewahrte, welches emsig beschäftigt war, Haselnüsse zu pflücken.

Leise schlüpfte Daneil aus der Höhle – und rücklings überfiel er das erschreckte Mädchen und trug es mit seinen starken Armen in die Höhle. Kein Flehen, kein Bitten erlöste die Maid aus der Gefangenschaft – sie fand kein Gehör bei dem Bösewicht. Das trostlose Hannchen musste bei ihm bleiben; schon lange hatte der Wilde sich nach einer Frau gesehnt, die ihm das Essen kochen und seinen Schlupfwinkel behaglicher gestalten sollte. Hannchen wurde also die Frau des Räubers, und er zwang sie, ihm heilige Schwüre zu leisten, dass sie ihn nie verlassen, noch irgend welchem lebenden Wesen verraten werde. Der Schwur des Weibes beruhigte Daneil vollkommen. Er hatte bald erkannt, wie gottesfürchtig sie war und dass sie nie eine so schwere Sünde wie den Bruch solch eines feierlichen Gelöbnisses begehen werde.

Das gefangene Hannchen aber war todunglücklich, dass es so allein bleiben musste bei dem, der ihr in tiefster Seele verhasst war. Schenkte der liebe Gott ihr zum Trost ein Kindlein, so tötete der Unmensch es sofort, damit das Geschrei desselben ihn nicht verraten könnte!

Sechs Jahre hatte Hannchen schon in der Höhle zugebracht, und alle Bitten, ihr doch zu gestatten, nur einmal wieder durch den schönen Wald zu wandern, waren vergeblich. Aber immer wieder bat und flehte sie, so dass Daneil ihr endlich erlaubte, bis nach Halberstadt zu gehen. Doch musste sie zuvor noch einmal ihre Schwüre wiederholen und ihm geloben, dass sie sofort nach Sonnenuntergang zurückkehren werde.

So schritt sie hinaus in die Dämmerung eines herrlichen Sommermorgens. Die Schleier der Nacht lagen noch leicht auf Wald und Feld; kein Laut unterbrach die Stille. Allein die Arme eilte hastigen Schrittes weiter. Sie wollte die Vaterstadt wiedersehen und durfte sich nicht verspäten. Nur manchmal hielt sie inne; das über sie verhängte Leid schien ihr zu schwer. Der Schwur hielt sie wie mit eisernen Ketten gefesselt; es war ein entsetzliches Schicksal.

So erreichte sie Halberstadt. Träumend von vergangenen Zeiten durchschritt die arme Frau langsam die stillen Straßen. Schon wollte sie heimkehren und schritt eben über den Marktplatz, als vor ihren Augen plötzlich der mächtige Roland stand – das Schwert hoch erhoben, mit drohenden Blicken auf sie niederstarrend. Entsetzt schaute die Unglückliche auf den steinernen Riesen, vor dem schon manche verborgene Sünde ans Tageslicht gekommen war. Es zwang sie wie mit eiserner Gewalt, sich niederzuwerfen und um Rettung zu flehen. Ihr Herz war zu voll von erduldetem Leid! Sie musste es erleichtern, und der Roland war ja kein lebendes Wesen. Ihm durfte sie beichten. Alles Schreckliche teilte sie mit, und in der Aufregung sprach sie lauter und lauter.

Ein Diener des Gerichts aber kam des Weges und sah vor dem Roland das knieende Weib. Erstaunt blieb er stehen, leise schlich er sich dann näher, um die Knieende nicht zu stören. Sein Staunen steigerte sich noch, als er hörte, dass sie eine förmliche Beichte ablegte. Und als er sie endlich von Totschlag und Mord sprechen hörte, da wurde es ihm klar, dass die Aussagen dieser Beichtenden zur Entdeckung eines schrecklichen Geheimnisses führen müssten. So fasste er sie am Arm, bot alle Beredungskunst auf, das Geheimnis herauszulocken; aber umsonst, es war ihr unmöglich, den Schwur zu brechen. Da wurde ein Priester geholt, und erst nachdem dieser sie ihres Schwures entbunden, offenbarte die Unglückliche ihr schreckliches Leid.

Wie froh war man, endlich des gefürchteten Daneil habhaft zu werden! Hannchen musste versprechen, beim Einfangen des Schlauen behilflich zu sein. Um nicht den Argwohn des Räubers zu wecken, kehrte seine Frau zu ihm zurück. Unterwegs aber streute sie Erbsen, damit die später folgenden Stadtknechte den Weg zur Höhle finden und sich in der Umgebung verbergen konnten.

Nachdem alle Vorbereitungen getroffen, hörten die Lauschenden auch bald das verabredete Zeichen, und als sie durch die Zweige blickten, bemerkten sie Hannchen, die, von dem Räuber gefolgt, aus der Höhle trat. Als dann sein Weib sich auf den Rasen gesetzt hatte, bettete der große Daneil seinen Kopf in Hannchens Schoß, um seine Mittagsruhe zu halten. Sobald er eingeschlafen war, gab seine Frau abermals den Knechten ein Zeichen. Leise schlichen sie näher. Das böse Gewissen aber, welches Daneil um jeden festen Schlaf brachte, ließ ihn auch jetzt auffahren, als er ein leises Knistern der Sträucher vernahm. Schnell sprang er vom Boden empor! Sofort stürzte er seiner Höhle zu und versuchte, sein Weib mit sich zu ziehen. Dieser gab aber die Hoffnung auf baldige Erlösung aus den Händen des Grausamen übermenschliche Kräfte; sie wehrte sich mit aller Macht dagegen.

Wütend, dass Hannchen seiner Rache entkommen war, schloss er mit Gerassel seine Behausung und verrammelte sie ganz und gar. Einer der Hauptleute meinte, man solle den Räuber aushungern; doch erfuhr er bald von Hannchen, dass ein solches Vorhaben sehr langwierig werden müsse, da die Höhle für lange Zeit Speise und Trank berge. Nun war guter Rat teuer. Wirklich brach die Nacht herein, ohne dass man dem Räuber irgend beikommen konnte. Mit großem Behagen verspeiste der sein Abendessen und legte sich dann, nicht gerade viel beunruhigter als gewöhnlich, aufs Ohr, innerlich lachend über die ohnmächtige Wut der lärmenden Menge.

Da machte einer der Hauptleute den Vorschlag, man solle Wasser in die Höhle gießen, um den schlauen Patron zu ertränken. Unzählige Hände rührten sich, um denselben auszuführen, nachdem zuvor eine Öffnung in den Felsen der Decke gebohrt worden war. Doch bald sahen die Arbeitenden das Nutzlose ihrer Bemühungen; denn durch alle Ritzen und Spalten rann die hineingegossene Flüssigkeit wieder fort. Wie konnte man das Wasser in der Höhle halten? Schließlich kam man auf den Gedanken, dass ein Gemisch von Wasser und Erde Erfolg haben müsse. Und um die Wirkung des Schlammes zu erhöhen, wurde aus dem Kloster ein großer Braukessel geholt, ein Feuer vor der Höhle angefacht und mit dem Sieden des Schlammes begonnen. War er kochend, wurde er sofort in die Öffnung gegossen. Die grausige Arbeit erwies sich bald als erfolgreich; das Toben des Räubers, welches anfangs zu den Ohren der Horchenden drang, verstummte. Jetzt wagte man den Eingang zu zersprengen und fand den gefürchteten Räuber tot vor der Tür liegen. Die gerechte, wenn auch grausame Strafe für seine vielen Verbrechen hatte ihn ereilt.

Hannchen aber kehrte zu ihren alten Eltern zurück, die das Glück, ihre totgeglaubte Tochter wieder in ihrer Mitte zu sehen, kaum fassen konnten. Die Zeiten und Menschen, welche diese Vorgänge erlebten, sind längst dahin. Nur die Felsenhöhle im Walde und der Roland auf dem Markt erzählen noch von jenen Tagen.

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