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Orkan aus West: Kampflose Übergaben

Eine Geschichte aus dem Buch "Orkan aus West – Vom Ruhrkessel zur Harzschlacht 1945" vom Harzer Autor Andreas Pawel. Im Kapitel "Kampflose Übergaben" wird anhand von Beispielen vom Mut derer erzählt, die trotz aller Todes-Drohungen mit der weißen Fahne in der Hand den Amerikanern entgegengingen, um sinnloses Töten und sinnlose Zerstörungen zu vermeiden.
Ausradierte Innenstadt: Halberstadt
Ausradierte Innenstadt: Halberstadt aus dem Buch „Orkan aus West – Vom Ruhrkessel zur Harzschlacht 1945“ von Andreas Pawel

Mit der Schließung des Ruhrkessels im April 1945 kam der Zweite Weltkrieg als ein alles verheerender Sturm nach Mitteldeutschland. Im Buch „Orkan aus West – Vom Ruhrkessel zur Harzschlacht 1945„, vom Harzer Autor Andreas Pawel, wird in vielen Geschichten und aus persönlichen Erinnerungen von Zeitzeugen der letzten Kriegsmonat im Kampfgebiet zwischen Paderborn und dem Harz bis zur Kapitulation des Generalstabes der 11. Armee in Kloster Michaelstein/Harz geschildert. Im Kapitel „Kampflose Übergaben“ wird anhand von Beispielen vom Mut derer erzählt, die trotz aller Todes-Drohungen mit der weißen Fahne in der Hand den Amerikanern entgegengingen, um sinnloses Töten und sinnlose Zerstörungen zu vermeiden.

Im Angesicht einer erdrückenden militärischen Übermacht des Gegners neigt der rational denkende Mensch zur Aufgabe der Verteidigung. Sie erscheint ihm sinnlos. Es ist verantwortungsvoller, Leben zu retten. Die militärische Lage im Frühjahr 1945 wurde indessen nicht rational beurteilt. Hitler hatte das Wort Kapitulation aus seinem Wortschatz gestrichen. Es existierten für solche Fälle im deutschen Militärstrafgesetzbuch klare Regelungen. Für einzelne Soldaten war eine persönliche Kapitulation strafbewehrt. Wer es trotzdem auf eigene Faust versuchen wollte, dem mußte klar sein, daß er als Deserteur verfolgt werden würde. Darüber hinaus gab es vom Führer und obersten Befehlshaber der Wehrmacht ganz klare Weisungen, wie in solchen Fällen zu verfahren war. In der zweiten Kriegshälfte mußten Einheitskommandeure im Falle von Kapitulation mit Sippenhaft der eigenen Familienangehörigen rechnen. Es gab viele Fälle von praktizierter Sippenhaft, so daß für Hitler und seine Umgebung dieses Mittel sehr erfolgreich war. Zu Recht befürchtete man an oberster Stelle, daß das Verweigern von soldatischer Pflicht ohne Sanktionen einem Dammbruch gleichkäme. Die Generäle hatten Angst, die Soldaten hatten Angst. In den letzten Kriegswochen kämpfte der übergroße Teil der Wehrmachtsangehörigen nur noch aus Pflichtgefühl und eben auch aus Angst vor Erschießung und Haftstrafen seiner Angehörigen. Aus diesem Grund gab es im Westen sehr wenige Kapitulationen. Anders war die Lage, wenn eine Einheit eingeschlossenwurde. So beispielsweise im Ruhrkessel. Da der lange Arm des Führers nicht bis in den Kessel reichte, war es hier leichter, den Kampf zu beenden.

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Speziell an der Westfront entwickelte sich aber ein von Hitler nicht für möglich gehaltenes Phänomen. Deutsche Städte öffneten ihre Tore den heranrückenden Engländern, Amerikanern und deren Verbündeten. An der Ostfront gab es diese Erscheinung in weit geringerem Maße. Hitler sah darin ein besonders ehrloses Verhalten und natürlich einen Verrat am deutschen Volk. Er forderte, aus größeren Städten Festungen zu machen. Diese Festungen sollten starke Feindkräfte binden, die dem Feind dann anderswo fehlen würden. Notfalls habe sich die Festungsbesatzung einschließen zu lassen, um im günstigen Augenblick aus der Festung heraus Gegenoperationen zu starten. Der nicht durchgängig gebrauchte Begriff Festung bedeutete eben nicht, daß es sich um eine Festung im Wortsinn handelte. Zum Kriegsende wurden dann nicht nur große Städte, sondern auch Landstädtchen, Dörfer sogar und ganze Landschaften inflationär zu Festungen erklärt. In den allermeisten Fällen handelte es sich dabei um pures Wunschdenken, denn materielle und personelle Ressourcen zur wirkungsvollen Verteidigung solcher festen Plätze waren kaum vorhanden. Das wollte der oberste Kriegsherr durch Härte und bessere Moral ausgleichen. Der Kommandant eines solchen Objektes wurde Kampfkommandant genannt. Er sollte ein besonders ausgesuchter, harter Soldat sein, der den Ortsstützpunkt mit allen Mitteln zäh zu verteidigen hatte und dadurch die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Weiterführung des Kampfes in diesem Bereich schaffen sollte. In seinem Bereich unterstanden ihm sämtliche Soldaten und Zivilisten. In seiner Person lag auch die vollziehende militärgerichtliche Strafgewalt. Er bekam fliegende Militär- oder Standgerichte zugeteilt. Es kam also auf ein stures „Halten“ an, flexible Operationen wie Gegenangriffe etwa blieben den nicht zu der Festungsbesatzung zählenden normalen Wehrmachts- oder Waffen-SS Einheiten vorbehalten.

Aus militärischer Sicht erklärte sich diese 1944 erlassene Führerweisung zu Festen Plätzen als Wellenbrecher gegen den heranflutenden Gegner. Durch die völlig unzureichende Ausstattung dieser Festungen erfüllten sie die ihnen zugedachte Aufgaben nur vereinzelt. Militärtechnisch ist das Konzept nicht aufgegangen; im Gegenteil, bei den Soldaten galten diese Objekte als Menschenfallen, aus denen man nur noch tot herauskommen könne. Bei der Übermacht des Gegners an Mensch und Material fiel auch das propagierte Kräftebinden kaum ins Gewicht.

Da im Schicksalsjahr 1945 gerade an der Westfront immer mehr Orte, oder wie im Fall des Harzgebirges sogar eine komplette Landschaft zum Festen Platz erklärt wurden, waren kampflose Übergaben von Ortschaften lebensgefährlich für den, der es versuchte. Denn da war ja immer ein Kampfkommandant, der im Hinterland zumeist seine Familie wußte. Dieser Druck, diese Angst um das Schicksal der Angehörigen und darüber hinaus die physische Präsenz der gefürchteten Waffen-SS war eine teuflische Gemengelage. Es gab Beispiele, wo mutige Einwohner, mitunter auch Offiziere an die Vernunft des Kampfkommandanten appellierten und damit Erfolg hatten. Da galt es „Goldene Brücken“ zu bauen, um mit List und Tücke die Stadt zu retten. In einigen Fällen wurden Kampfkommandanten vor solcher Übergabe entfernt, auch da galt es allerdings wasserdichte Gründe zu konstruieren. Und oftmals ging so eine edle Rettungstat schief, bezahlten mutige Männer dafür in den letzten Tagen, sogar Stunden des Krieges mit ihrem Leben. Im Angesicht des Todes waren alle gleich. Ein ranghoher Wehrmachtsoffizier wie Oberst Petri, Kampfkommandant von Wernigerode, mußte genauso sterben wie zuvor Wilhelm Gräfer, Bürgermeister von Lemgo. Beide wurden erschossen beziehungsweise gehenkt. Wer nicht bis zum letzten Atemzuge, bis zur letzten Patrone kämpfen wollte, der hatte sein Leben verwirkt, ohne Ansehen auf Person, Rang und Stand. Der Führer hatte in einer Rede erklärt: „Wer den Tod in Ehren fürchtet, der stirbt ihn in Schande“. Gewissensnöte zählten da überhaupt nicht.

Grabstätte Wilhelm Gräfer, Andreas Pawel: Orkan aus West - Vom Ruhrkessel zur Harzschlacht 1945
Grabstätte Wilhelm Gräfer

Aber trotz Terror und Abschreckung konnte eine große Zahl deutscher Städte und Dörfer dennoch unversehrt die gefährliche Zeit in der Frontzone überstehen. Wenn sich heute schmucke Fachwerkstädte den Touristen werbewirksam präsentieren, wenn Besucher aus aller Welt Zeugnisse des Fleißes vieler Generationen sowie Meisterwerke deutscher Baukunst bestaunen, dann soll auch der Städte erinnert werden, die nicht unter glücklichen Umstände davonkamen; die durch Kämpfe, Beschuß und Sprengungen bis fünf nach zwölf ihren Schmuck, ihr Gesicht und ihren Charakter unverschuldet verloren haben.

Blankenburg beispielsweise ist es so ergangen. Bislang im Krieg unzerstört, glaubte die schöne Residenzstadt der Braunschweigischen Herzöge ungeschoren davonzukommen. Doch dazu hätte es mindestens einen beherzten Mann geben müssen, der die Sache in die Hand genommen hätte. Es fand sich einfach niemand, der den Amerikanern mit der weißen Flagge des Parlamentärs entgegengegangen wäre. Bürgermeister Philipp war getürmt, ließ die Stadt in ihrer schwersten Stunde führungslos zurück. Der Kampfkommandant wußte das Oberkommando der 11. Armee in seiner Stadt. Wenn ranghöhere Offiziere, Generäle sogar in der Nähe waren, standen ihm Entscheidungen bezüglich einer kampflosen Übergabe ohnehin nicht zu. Der OB der 11. Armee, General Lucht wiederum dachte sorgenvoll an seine und seiner Familie Zukunft und traf Maßnahmen für seine kommende Gefangennahme. Keineswegs wollte er kapitulieren oder den Gehorsam verweigern, das mißlungene Beispiel des Oberst Petri hatte er noch frisch vor Augen. Sein amerikanischer Gegenspieler Colonel Burba wollte Blankenburg schnell eingenommen haben. Wie so oft zuvor mit Erfolg durchgeführt, wollte er das Blut seiner Soldaten sparen und versuchte es zunächst mit einem Ultimatum. Als die Zeit ergebnislos verstrich, befahl er Feuer aus allen Rohren und Beschuß aus der Luft. 60 Häuser im Stadtkern, die Töpfer-, Mauer- und Marktstraße sowie der komplette Adolf-Hitler-Platz und der Schnappelberg sanken in Schutt und Asche. Besonders der Granatbeschuß aus Richtung Heimburg trug zu der verheerenden Bilanz bei. Zwei Stunden später marschierten die Eroberer ohne Gegenwehr ein.

Ausradierte Innenstadt: Halberstadt
Ausradierte Innenstadt: Halberstadt

Der Fall ist mit Braunschweig vergleichbar, auch dort wurde von Seiten der Deutschen kein Kapitulationsangebot akzeptiert, der dortige Kampfkommandant Generalleutnant Veith lehnte rundheraus ab. Da ließ die US-Army ihre Muskeln spielen. Artillerie und Tiefflieger schossen in die Stadt, was die Rohre hergaben. Riesengroße Zerstörungen und Brände waren die Folge. In der Nacht darauf, lange bevor der Morgen dämmerte, wurde die Übergabe Braunschweigs dann vereinbart; war der Krieg für die Stadt beendet.

In diesen Tagen waren gerade die besonnenen Bürger auf sich allein gestellt. Kaum einer von ihnen wußte, mit welcher List, mit welchem Plan die Nachbarstädte das Kriegsende mit seinem nihilistischen Potential überstehen würden. Es gab kaum Austausch von Informationen. Aber sei es aus Edelmut, großem Menschentum oder aus purer Selbsterhaltung: Jetzt wurden Männer gebraucht, die klug zu handeln verstanden. Zum Glück gab es sie. Weitsichtige und Mutige waren zur Stelle, was erstaunlich ist. Hatte doch die Propaganda fanatischen Widerstand bis zur Selbstaufgabe wieder und wieder gefordert. Fanatische Anhänger des Dritten Reiches waren natürlich nicht für derartige Missionen zu gewinnen. Bis zuletzt bestimmten sie den Ton, wachten über ihren Befehlsbereich. Vom höchsten Gauleiter bis zum kleinsten Blockwart war noch jedes dieser Rädchen im Getriebe des Reiches kreuzgefährlich. Ein falsches Wort ins falsche Ohr konnte den Erschießungstod bringen. So sollte der Durchhaltewille in der Bevölkerung hochgehalten werden. Das alles in Sichtweite der Amerikaner. Wenn indesen eine Übergabe gelang, kippte die Situation blitzschnell. Dann waren die Einpeitscher von gestern auf wundersame Weise verschwunden. Zumeist wagten es Ärzte, Lehrer, Bürgermeister und Offiziere der Wehrmacht, so eine kampflose Übergabe zu organisieren.

Das waren beileibe nicht immer Einheimische, die etwa aus Sorge um die Unversehrtheit ihrer vertrauten Heimat so handelten. Vielfach waren es Dienstverpflichtete, Evakuierte aus anderen Teilen des Reiches oder vor Ort anwesende Offiziere; in der Regel also Personen, die aus ihrem Verhalten keinen persönlichen Nutzen ziehen konnten oder wollten.

In Braunlage waren es Wehrmachtsoffiziere, die die Kriegslage realistisch beurteilten. Gleichgesinnte berieten sich, nachdem der Generalstab der 11. Armee das Städtchen via Schierke verlassen hatte. Vor dem Kommandeur der am Ort liegenden Einheit gelang es, das Vorhaben geheim zu halten. Der 65-jährige Oberfeldarzt Dr. August Aumann übernahm den gefährlichen Gang als Parlamentär über die Frontlinie zu den Amerikanern. Da war das Armeeoberkommando bereits genügendweit weg. Die Übergabe Braunlages am 17.April war die letzte in der Festung Harz.

Gedenkstein Aumann

Weitere Beispiele können Sie im Kapitel „Kampflose Übergaben“ aus dem Buch „Orkan aus West“ von Andreas Pawel nachlesen.