Über viele Jahre konnte man ihn auf der B 81 mit seinem Wägelchen »Marke Eigenbau« und der orangenen Warnweste wandernd am Straßenrand beobachten. Nur in letzter Zeit wurde der den Veteran überragende und verzierte Wanderstock kaum noch benutzt. Manchmal spannte er sich noch selbst vor die Deichsel, um die 34 Kilometer vom Oberharz zu seiner Freundin nach Halberstadt in fünf Stunden abzuspulen. Zwei Tage später dann der ungleich strapaziösere Aufstieg in die Berge. Und das, obwohl sein 22 Jahre alter und zudem bestens gepflegter Audi in der Garage ein sehr viel bequemeres Verreisen jederzeit ermöglichen würde. Seinen zweiten »Wagen«, einen Trabant Kombi hat er schon vor 20 Jahren in die zweite Etage seines Schuppens per Gabelstapler hochhieven lassen. Zu welchem Zweck auch immer, aber wenigstens aufbewahrt für die Ewigkeit.
Inzwischen sind die Beine ein wenig müder geworden. Aber die Erinnerungen sind hellwach. An gewaltige Fußmärsche quer durch Europa. Wenn der Königshütter Weltenbummler Egon Ecklebe von seinen Wanderungen erzählt, dann beginnen seine Augen zu leuchten, als wäre er erst gestern zurückgekehrt…
Schlafwagen samt Kilometerzähler, Tarnnetz, Thermometer, Rasierspiegel und Gardine am Heck
Auf seinen ersten Touren macht sich der Globetrotter praktisch zu seinem eigenen Probanden: »Ich wußte doch selbst nicht, wie mein Körper auf diese Strapazen und die plötzliche Reizüberflutung reagieren würde. Hätte ja auch gut sein können, daß es mir alsbald langweilig wird. Aber das wurde es niemals.« 60 Kilo beträgt allein das Eigengewicht seines gebremsten Mini-Planwagens. Hinzu kommen Proviant und sonstiges Gepäck, wie ein kleiner Topf, Haferflocken, Milch oder Kocher, das sind weitere 30-40 Kilogramm. Dabei ist Ecklebe ein wahrer Milch-Junkie vor einem kleinen, durch Europa schaukelnden Milchtransporter auf zwei Rädern. Während die »Zugmaschine« vorn an der Deichsel von einem PS stets nur träumt. Aber sonst denkt der »Forrest Gump des Oberharzes« wirklich an alles. Sogar an die kleine Gardine am Heck, die ihm Nachts vor den Mücken Schutz bieten soll: »Ich hatte nichts mit, was vorher nicht gewogen oder vielfach getestet worden wäre. Es sollte alles ehrlich und korrekt zugehen.« Er habe sich in seinem Wanderwagen stets zu Hause gefühlt, sagt er über jenes Vehikel, welches heute noch in seiner Garage steht, als würde er damit schon morgen zum nächsten Trip aufbrechen wollen.
»Ich konnte, wenn ich beim Gehen richtig müde war, auch schon mal meine Augen schließen. Machen Sie das mal auf einem Fahrrad!«
Als der Wanderer von seiner ersten Reise heimkehrt, wird er überschwenglich vom ganzen Ort empfangen. Die Königshütter stehen beiderseits der Straßen Spalier, ganz so, als käme der König persönlich. Extra wegen dieses Ereignisses schließt die Hütte für diesen Tag. Daß wirklich alle zu seinem Empfang auf den Beinen sind, wird Egon Ecklebe später in dieser Form nie mehr erfahren: »Die waren wirklich alle so stolz auf mich, daß ich Königshütte ein bißchen bekannt gemacht habe!«
Immer irgendwie anders als der Rest der Welt
Und dann ergänzt er: »Andere geben Tausende aus, damit sie sich mal ein bißchen wohl fühlen. Mir genügten bei jeder meiner Wanderungen, wahres Glück zu erfahren und die Begeisterung der Leute am Straßenrand gleich mit. Das Simple und das Freiheitsgefühl: das in der Kombination war das für mich Bestechende.« Im Westen Deutschlands und auch später in Paris passiert es dem Oberharzer mehrfach, daß man dem vermeintlich obdachlosen Penner Geld zusteckt. Daß er das immer strikt von sich weist, führt bei den Edelmütigen nicht selten zu Irritationen und mitunter sogar zu handfester Verärgerung. Andere, die sich genauer mit seinem Wagen und der auffallend peniblen Ordnung darin beschäftigen, bemerken recht schnell, daß sie es keineswegs mit einem Mittellosen zu tun haben. Eher schon mit einem Asketen, der diese Rolle in all ihren Facetten auskostet, als hätte er sein ganzes Leben lang noch nie etwas anderes gewollt…
Socken aus einem Fahrradschlauch, Pflaster und darüber richtige Strümpfe
Um 1996 und 2001 folgen die zweite und dritte Deutschland-Umrundung, jeweils auch wieder im Uhrzeigersinn. Die Rede ist von jeweils knapp über 5.000 Kilometern: Deutschland, »immer an der Wand lang«. Von da an wird aber nicht mehr ganz allein gewandert: »Dschabo«, ein tschechischer Wolfshundsmischling, läuft von nun an immer an seiner Seite. Und dieser macht seiner Rasse alle Ehre, indem er Kamerateams oder sonstige Neugierige stets erfolgreich in die Flucht schlägt. Bei Hof sollte sich Dschabo schwere Verletzungen zufügen, als er unvermittelt in einen PKW rennt. Zwangspause für den Globetrotter: »Mit Rindfleisch und Eiern habe ich Dschabo wieder hochgepäppelt. Drei Tage habe ich mit ihm im Wald geschlafen und ihm eine eigene Bude gebaut. Als er dann des Nachts bei Wildschweinen anschlug, wußte ich, daß er auf dem Wege der Besserung war. Ein paar Tage habe ich ihm dann noch notdürftig Socken aus einem Fahrradschlauch, Pflaster und darüber richtige Strümpfe angefertigt, bis er dann endgültig über den Berg war.« Viel zu früh verläßt ihn Dschabo, sein treuer Begleiter; er wird vergiftet.
Wohin Weltenbummler Ecklebe auch gerade wandert: seine Route bleibt niemals dem Zufall überlassen. Bereits zu Hause wird sie in den Fotoalben festgelegt. Die zumeist per Stativ selbst geschossenen Bilder werden nachträglich ergänzt. Interessanterweise finden sich dazu Goethe- und Hesse-Zitate: »Alles, was uns imponiert, muß auch Charakter haben.« Mit sichtlicher Begeisterung zeigt Ecklebe sein Lieblingsbuch: »Trost bei Goethe«. Es habe keine einzige Wanderung gegeben, auf der er sich nicht Inspiration aus diesem längst abgegriffenen Bändchen geholt hätte: »Das Buch war oft meine Erlösung. Ich habe mich darin vielfach selbst wieder erkannt. Der Dichter hat darin wirklich alles auf den Punkt gebracht, was ich später wandernd genauso empfunden und erfahren habe. Goethe war höchstwahrscheinlich auch so ein Einzelgänger und ausgesprochener Dickkopf, wie ich.« Vier Jahrzehnte lang gehört der Königshütter Literaturfreund Egon Ecklebe nicht ohne Grund der Goethe-Gesellschaft an.
Und es ist alles andere als ein Zufall, daß ausgerechnet der introvertierte, weltentrückte und melancholische Hermann Hesse ebenfalls zu jenen Schriftstellern zählt, die den passionierten Wanderer über alle Maßen begeistern und zugleich voller Hochachtung sprechen lassen: »Auf diese Weise hatte ich meine geistige Nahrung stets bei mir. Es ist sehr selten vorgekommen, daß ich mal einen wirklichen Hänger hatte. Aber wenn doch, dann halfen mir diese Zeilen über die Zeit hinweg.« Köstlich amüsiert er sich hingegen noch heute über jemanden am Straßenrand, der ihm einst hinterher rief: »Jesus lebt!«: »Ich habe noch oft darüber nachgedacht, was ich an mir hatte, um mit dem Gekreuzigten verglichen werden zu können.«